Dienstag, 11. Februar 2014

Formlos (5) - Heimat


Ich war in dieser Gegend längst angekommen. Einhundert Kilometer entfernt aufgewachsen, stellte sich die Frage nicht, wo meine Heimat lag. Heimat, das war ein heterogenes Gebilde, das seine Kristallisationspunkte hatte, die mit einander verknüpft waren. Ein Netz, beweglich, anpassungsfähig, interkulturell, mit Wohlfühl-Faktor. Die Redensart „der Bauer klebt an seiner Scholle“ klang aus meiner Kindheit nach, denn, auf dem Land aufgewachsen, hatte ich zwar viel Natur und Naturverbundenheit kennen gelernt, aber auch eine gewisse Abgeschiedenheit vom Rest der Welt.

Was wäre eine Vernetzung ohne Mobilität ? In meinem Fall: mein Rennrad war der Idealzustand einer Mobilität, denn das Tempo war schnell, wie auf Samthandschuhen getragen, glitt ich durch die Natur, ich sprang von Ort zu Ort, Natur und Naturverbundenheit verschmolzen mit mir zu einer Einheit.

Der Moment, der das Erlebnis zu einem Höhepunkt führte, dauerte zehn Minuten. Es war die erste Rennradtour im neuen Jahr, die ich mit 45 Kilometern bewußt kurz ausgewählt hatte, um in den richtigen Tritt zu kommen. Den Rhein hatte ich überquert, und in Bonn-Oberkassel läutete ich die zehn Minuten totales Landschaftserlebnis ein.

Ende Januar, die Jahreszeit war ungewöhnlich für eine erste Rennradtour. Bitterkalt, weiß, schneebedeckt, Eis, rutschig, glatt, solche Winterstimmungen hatte ich vor einem Jahr gepostet. Nun war der Wind eine zahme Angelegenheit, er säuselte um meine Ohren. Mit gefütterter Fahrradjacke, Schal und Fingerhandschuhen trieb mich mein sportliches Outfit voran. Der blaue Himmel lächelte mich an. Schäfchenwolken ließen mich fast an den Frühling denken, wenn die Bäume und die Natur nicht so ratzekahl gewesen wären. Von Schnee oder Kälte war während des ganzen Winters keine Spur.

Zehn Minuten lang hieß es „bergauf“. Oder: treten, treten und nochmals treten. Ich übte, um mit Routine solche Anstiege zu bewältigen. Der Winter war eine Unterbrechung, weil ich drei Monate lang nicht mehr auf meinem Rennrad gesessen hatte. Mit dem Sport bin ich mit gewissen Unterbrechungen seit meiner Jugend groß geworden. Fußball-Spieler in der Kreisliga C, dann 15 Jahre lang Fußball-Schiedsrichter, danach Joggen, seit zehn Jahren Rennradfahren.

Ich schaute weg. Das gerade Band der Straße forderte meine geballte Kraft heraus. Nach vorne schauen, entmutigte mich, denn zu langsam, im gefühltem Schritttempo, kroch ich mitten ins Siebengebirge hinein. Ersatzweise verlor sich mein Blick auf dem Erdboden, wo die Schicht des Herbstlaubes noch dünner, noch schwächer, noch lebloser die Blässe des Januartages bedeckte. Ein Bachlauf fraß sich in das Erdreich hinein, kahles Buschwerk verhakte sich in der Leere. Das Licht des Januartages stand so schräg, dass die Sonnenscheibe hinter den Berghängen des Siebengebirges verschwand.

Das Kurvenschild flackerte am Straßenrand auf, meine Ausdauer arbeitete, meine Muskeln hielten durch. Eine scharfe Linkskurve, dann dieselbe Wendung nach rechts, es ging weiter bergauf. Noch einhundert Meter treten, die Gewißheit mobilisierte meine Kräfte, denn ich kannte die Strecke. Nach zehn Minuten hatte ich den höchsten Punkt erreicht. Geist und Körper befanden sich in einem Gleichgewichtszustand. Mein Blut pulsierte, in langen Zügen sog ich den Atem ein und aus.

Fortan rollte ich bergab. Meine Anspannung war wie verflogen. Ohne treten zu müssen, war der Übergang in den Ruhezustand grandios. Heimat braucht Konturen, Fixpunkte, positive Eindrücke, die sich wiederholen und haften bleiben. Ich könnte meinen, dass Heimat eine Suche nach den Gegensätzen ist. Aufgewachsen auf dem flachen Land, suche ich solche mittelgebirgshaften Landschaften. Flachland ist unspektakulär und entfaltet in Flußniederungen all seine Schönheit.

Und das Siebengebirge ? Der Ölberg, dieses dauerhafte Motiv, schraubte sich rechterhand in die Höhe. Von allen Seiten überragte er das Siebengebirge. Mit Weitblick, von der Kölner Bucht aus, vom Westerwald aus, von der Euskirchener Börde aus – oder auch von uns zu Hause aus – war er zu sehen. Er war mein eigenes Stück Heimat. Einhundert Kilometer entfernt aufgewachsen, vereinigte er die Schönheit der Mittelgebirgslandschaft mit meiner sportlichen Ausdauer.

Meine Geburtsstadt sehe ich nicht mehr allzu oft. Heimat ist kein fester Ort, sondern eine Vielzahl von Orten, wo sich Familie, Freunde, Gefühle, Erinnerungen und Geschehenes mit einander verbindet.

2 Kommentare:

  1. Ich ziehe immer wieder den Hut wie man solche Touren und auch Höhenunterschiede mit dem Rad bewältigen mag und auch kann.

    Habe gerade gestern an dich denken müssen. Bei einem Kaffee am MIrador El Lance (Bergstraße nach Hause) saß auch eine Gruppe von Radlern. Puh, wenn ich mir vorstelle diese Strecke mit nem Rad fahren zu müssen...weia.

    Ja. mit der Heimat ist so ne Sache. Für mich ist Heimat dort wo ich mich wohlfühle.

    Liebe Grüssle

    Nova

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  2. Heimat? Heimat ist da, wo ich mich wohlfühle.
    Jetzt ist es hier in Baden-Württemberg.
    Einen stressfreien Donnerstag wünscht dir
    Irmi

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