Der Auszug rückte näher, und das war gut so. Die Wohnung, die sie sechs Monate bewohnt hatte, hatte sie gedanklich bereits abgehakt. Obschon der Mietvertrag erst in drei Tagen endete, wollte sie nur noch weg von diesem Ort der Kontrolle und Willkür. Sie weigerte sich, Erinnerungen aufleben zu lassen, wie die sechs Monate verlaufen waren. Die letzten Kleinigkeiten abholen, ihr Freund hatte gestrichen und renoviert. Ihr Auto kurvte durch die Vorstadtsiedlung, die mit den Platanenreihen merkwürdig hübsch aussah. Der Kinderwagen schiebenden jungen Mutter auf dem Gehsteig schenkte sie keine Beachtung. Es war widersinnig. Lieber in einer eintönigen Mietskaserne wohnen als in dieser Vorstadt, wo zwischen den Einfamilienhäusern ausreichend Platz war. Lieber Wohnung neben Wohnung eng zusammengequetscht wohnen als hier auf lauter sauber heraus geputzte Vorgärten zu schauen.
Sie parkte in einer Seitenstraße. Die prallen Blüten von Rhododendron-Büschen wucherten über einen Jägerzaun. Sie roch die dezente Frische von gemähtem Rasen, dessen Farbe von einem hellen zu einem beschwingten Grünton wechselte.
Herein, Umzugskiste befüllen, heraus, möglichst schnell diesen unseligen Ort wieder verlassen, mehr wollte sie nicht. Sie traute ihren Augen nicht, als sie von der Straße aus zu dem rostrot verklinkerten Einfamilienhaus hinauf schaute. Über dem Balkon ihrer sechzig Quadratmeter großen Noch-Mietwohnung erkannte sie schemenhaft einen Vorhang. Was war los ? Über die Pflastersteine, die zur Haustüre gelangten, trat sie näher heran. Es war keine optische Täuschung. Jemand hatte tatsächlich über der Brüstung ihres Balkons eine Art Netz gehangen, das so aussah wie das Mittelnetz auf einem Tennisplatz. An den Seitenwänden und an der Decke befestigt, blähte sich das Netz sogar auf wie ein Tornetz beim Fußball, wenn der Wind hinein pustete.
Sie rätselte, staunte, wie sich menschliche Verhaltensweisen verirren konnten. Sie schritt über die Haustüre, Flur, Diele und Treppenaufgang zu ihrer Noch-Mietwohnung.
„Was machen Sie hier ?“
Schnauzte der Vermieter, als müsse sie zu einem Appell wie bei der Bundeswehr antreten.
Ihre Blicke kreuzten sich. Es war ohnehin gleichgültig, wie sie gekleidet war, wie sie sich gab, welches Mienenspiel sie zeigte oder wie sie auf die blasse Tapete starrte. Sie lieferte ihm stets einen Grund, sich aufzuregen. Seine eng zusammenliegenden Pupillen spuckten Gift. Er warf ihr vernichtende Blicke zu, als hätte er sie auf den Mond oder sonst wo hin gewünscht, wo er sie niemals wieder sehen würde.
Die sympathische Mieterin, die sie anfangs für ihn war, hatte sich mit ihrem Einzug in ein Feindbild verwandelt. Seine Schwiegermutter war genügsam. Zahlungsfähig, fester Job, einfach, unkompliziert, so hatten er und seine Frau sie als Nachmieterin für die Einliegerwohnung ausgewählt, nachdem seine Schwiegermutter gestorben war. Die Probleme begannen nach ihrem Einzug. Seine Frau machte Diät, und sie mochte es nicht, wenn Gerüche aus der Küche nach außen drangen. Daher mussten die Fenster beim Kochen geschlossen bleiben. Er kannte keine Geräusche mitten in der Nacht. Schlagartig wurde er wach und er hatte es notiert: regelmäßig morgens – die früheste Zeit war 5.26 Uhr – hörte er die Toilettenspülung (weil sie wegen ihrer Arbeit so früh aufstehen musste).
Für sie war dies der Horror der Kontrolle. Um 5.26 Uhr morgens durfte sie keine Toilettenspülung betätigen. Sie durfte nur bei geschlossenem Fenster kochen. Ihren Freund musste sie anweisen, geräuschlos zu kommen und genauso geräuschlos abends die Wohnung zu verlassen, ohne dass nur ein Muckser im Flur zu hören waren. Mehrere Freunde einzuladen, war schlichtweg undenkbar.
„Was wollen sie in ihrer Wohnung ?“
Bei seiner drahtigen, cholerischen, aufbrausenden, unruhigen Erscheinung hätte er sie am liebsten mit einer Handbewegung weggewischt.
„Ich wohne hier noch. Erst in drei Tagen sind Sie mich als Mieter los. Dann können Sie machen was sie wollen.“
Sie drehte den Schlüssel der Wohnungstür um, betrat die Wohnung, schleifte den Umzugskarton als lästiges Anhängsel hinein, ignorierte ihren Vermieter, der an ihr zu kleben nicht aufhörte.
Sie steuerte auf die Irrungen und Wirrungen menschlicher Verhaltensweisen, zu denen sie eine Erklärung suchte. Vergeblich, wie sich herausstellen sollte. Dissonanzen, würde man in der Musik sagen. Sie schritt auf den Balkon. Welche Bedeutung, welchen Sinn hatte das Netz ?
Der Balkon kam ihr verschleiert vor wie eine muslimische Frau, die ihre sonnige und aufreizende Seite nicht zeigen durfte und alles anstatt dessen in Verhüllung und Schleier verbergen musste.
„Und ?“
Sie zeigte auf das Netz und schüttelte den Kopf. Beide standen auf dem Balkon. Einem Tennisnetz, wie man es auf jedem Tennisplatz in Deutschland sah, war dieses Netz verblüffend ähnlich. Sie rang nach Deutung. Tornetz oder Tennisnetz, als kriegte sie keinerlei Verbindung hin zu einem Wohnen in Ruhe und Frieden, wie es eigentlich jeder Mensch anstrebte.
„Kreuz und quer stehen Ihre Pflanzen auf dem Balkon. Da ist keinerlei Ordnung erkennbar. Das kann ich niemandem zumuten. Ihre Pflanzen sollten schnellstmöglich verschwinden. Mit dem Netz habe ich es geschaftt, dieses Chaos zu verbergen.“
Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Solche Abgründe menschlicher Verhaltensweise hätte sie niemals für möglich gehalten. Als sie ihre letzten Hebseligkeiten in die Umzugskiste gepackt hatte, betrat sie niemals mehr diesen Ort. Leergeräumt, scherte sich niemand um die Übergabe. Das war schon beinahe ein Wunder, dass er mit seinem nörgelnden Charakter hätte bestimmt Mängel entdeckt