Freitag, 30. November 2012

beim Friseur

Diesmal standen mir die Haare nicht zu Berge. Diesmal musste man nicht auf Entdeckungsreise gehen nach meinen Ohren, die von einem Urwald von Haaren zugewuchert waren. Diesmal erinnerte ich nicht an die wilde 68er-Generation, als die Haarmähne ein Zeichen von Revolution und Unbeugsamkeit war.

Die Ohren waren noch nicht ganz bedeckt, Haarbüschel meines Ponys trübten noch nicht den Blick durch meine Augen. Bei meinem Gang zum Friseur hatte ich hatte diesmal so zivilisiert ausgesehen, dass ich mich auf der Straße sehen lassen konnte.

„Was macht die Älteste ? ….
… was geht’s dem Jungen in der Ausbildung …
… was macht die Kleine in der Schule ? … „

Der Gang zum Friseur ist so eine Art von Blitzlicht, was gegenwärtig ist. Ich reflektiere frei und halte mich nicht zurück, wenn es irgendwo hakt und klemmt. Ich rede viel offener als sonst wann. Dabei spüre ich Diskretion und Zuhören und Einfühlen in die Situation des anderen. Ebenso stimmt diese Gleichzeitigkeit von Distanz und Nähe: während die Schere klappert, wird das Denken in geordnete Bahnen gelenkt. Tiefenbohrungen dringen in die Gefühlswelt ein, aber nur so weit, dass keine Grenzen überschritten werden. Die Theorie, dass Friseure exzellente Psychologen sind, kann ich nur bestätigen.

Ein Blick in den Spiegel offenbarte die wohl geordnete Struktur, die meine Haare wieder zurück gewann. Büschel ergrauter Haare waren auf den Boden gepurzelt. Die Schere schnitt Maß und Proportion zurecht. Mit meinem eigenen Äußeren begann ich mich wieder anzufreunden. Ich lehnte mich in meinem weich gepolsterten Stuhl nach hinten.

Auch die Friseuse begann, aus ihrem Nähkästchen zu plaudern. Sie setzte auf meinen Beitrag zum Thema Freundschaft auf, dass unser Freundeskreis außerhalb der dörflichen Strukturen zu finden ist. Dies war bei ihr nicht so, denn über ihren Mann und die Vereine war die Vernetzung mit dem Dorf stärker.

„Da müssen Sie aufpassen, was Sie sagen. Am nächsten Tag weiß es das ganze Dorf.“
Ich nickte.

Sie fügte hinzu:
„Als wir den Wasserschaden hatten, als die geplatzte Hauptleitung im Ort unseren Keller unter Wasser gesetzt hatte, da haben wir gemerkt, welches unsere Freunde sind. Aus dem Dorf hat sich niemand sehen lassen. Die Freunde von meiner Seite, die nicht im Dorf wohnen, haben mitgeholfen.“

Einige Zeit später, schwenkte das Gespräch zu ihrer Stieftochter über. Sie lebte in einer Patchwork-Familie, und ihr zweiter Ehemann hatte einen Sohn und eine Tochter in die Ehe mit gebracht.

„Sie können nicht ahnen, wie dumm die ist. Noch keine 18, hatte sie einen Termin beim Frauenarzt, weil sie Angst hatte, schwanger zu sein.“
„Es gibt Fälle, da kommt so etwas vor.“
„Sie überlegt nicht, was sie alles über Facebook an ihre Heerscharen von Freunden postet ….
… Was meinen Sie, was an den Tagen danach los war ? Unser Telefon hat nicht mehr stillgestanden. Das ganze Dorf und all ihre Freunde wollten wissen, ob sie nun schwanger ist oder nicht.“

Ich schüttelte den Kopf. Der Föhn pustete sein heftiges Gebläse über meinen Kopf. Meine Haare schmiegten sich in eine hintere Stellung, Bürste und Kamm brachten meinen Haarschnitt in die richtige Position. Die Bewegungen liefen wie im Schlaf ab, das war präzise, akkurat, sorgfältig. Meinen Kaffee hatte ich aus der schwarzen, sechseckigen Tasse längst ausgetrunken. Am frühen Morgen, kurz vor acht, hatte der Kaffee neben dem regen Treiben der Friseusen meine Lebensgeister geweckt.

Ich wechselte meinerseits das Thema: auf die Vorweihnachtszeit.
„Die Zeit kommt schneller, als man denkt. Übernächste Woche habe ich bereits mit meinen Arbeitskollegen unsere Weihnachtsfeier."
Ich zögerte kurz und sah, wie sie die Länge meiner Koteletten begutachtete, um sie danach ein winziges Stückchen weg zu rasieren.

„Wann machen Sie mit ihren Kolleginnen Weihnachtsfeier ?“

Ich sah, wie ihr Blick augenblicklich auf den Boden fiel und auf dem bläulich-schwarz-gestreiften Linoleum hängen blieb. Die Inhaberin des Friseursalons, die einer Kundin gerade die Haare färbte, ließ ihren Blick ziellos zwischen den Haarwaschbecken herum irren. Ihre Blicke trafen sich nicht, beide zögerten, Worte wanderten über die Lippen, aber wurden nicht ausgesprochen.

Offensichtlich hatte ich mit meiner Frage ein heißes Eisen erwischt. Lange Diskussionen musste es gegeben haben.

„Nächstes Jahr. Machen wir bestimmt. Kümmere ich mich drum.“ beendete die Inhaberin den Stillstand und das Schweigen.

Eine Weihnachtsfeier im Januar des nächsten Jahres ? Oder noch später ? So sinnierte ich vor mich hin. Nein, in meiner eigenen Firma hatte es so etwas nie gegeben. So lange ich bei unserer Firma war – und das waren ungefähr satte 30 Jahre – hatte es im Dezember irgendeine Form des geselligen Beisammenseins gegeben, was man unter dem Begriff „Weihnachtsfeier“ zusammenfassen kann. Rein und raus ging es mit der Fragestellung, wer die Feier bezahlt. Meistens die Firma – in schlechten Jahren hat uns dies nicht davon abgehalten, das Essen und Trinken aus dem eigenen Portemonnaie zu bezahlen. Und ich kann mich nicht daran erinnern, dass es Jahre gegeben hat, in denen unser Chef durch Abwesenheit geglänzt hat (selbst Krankheit oder familiäre Ereignisse sind mir nicht bekannt). Es war ein beklemmendes Gefühl, mitten in eine Art von Wespennest hinein gestochen zu haben.

Als dieser Moment abgeklungen war, setzte die Friseuse ihre feinfühlige Art fort und massierte meine Kopfhaut. Das war entspannend, wie Wellness, obschon ich Wellness in eigenen Wellness-Oasen niemals kennen gelernt hatte.


„Auf Wiedersehen … schönen Tag … grüßen Sie ihre Familie … „ Als ich mich verabschiedete, war mit diesen Förmlichkeiten mein Weltbild wieder zurecht gerückt worden.

Freitag, 23. November 2012

Glockentürme (6) - Alter Turm in Ranzel


Von Köln aus kommend, brauste im Dunkeln das Ortseingangsschild vorbei. Die Straßenlaternen ergossen ihr helles Licht. Wie magere Schatten, huschten schlecht ausgeleuchtete Reihenhäuser an meinem Fahrrad vorbei. Ich stoppte am Alten Turm, denn die Neugierde reizte mich, Baudenkmäler vor der eigenen Haustüre kennen zu lernen.

Ich vermutete eine burgähnliche Anlage, die untergegangen war durch Kriege oder andere Zerstörungen, denn der Turm überragte mit seiner steilen Höhe die Umgebung.

Als ich näher trat und die Hinweistafel des Kulturpfades unserer Stadt las, packte mich das blanke Entsetzen. Der Turm hatte nichts mit einer Burg oder einer wehrhaften Befestigung zu tun, sondern es war ein Glockenturm, der zu einer Kirche gehörte, die 1970 abgerissen worden war. Die Straße war ausgebaut worden, und dabei hatte die Kirche gestört.

Ich fühlte mich wie in einer Bananenrepublik. In Romanen von Amir Valle hatte ich von dem beklagenswerten Verfall in Kuba gelesen, wo Häuser in sich zusammenstürzten und Menschen unter sich begruben. Aber niemand würde dort auf die Idee kommen, eine Kirche abzureißen. Ich machte eine gedankliche Reise durch die Welt. Philippinen, Mongolei, Madagaskar, Elfenbeinküste, Equador, Costa Rica, wer würde dort eine Kirche abreißen ? Mein Bild von der Bananenrepublik vor der eigenen Haustüre verdichtete sich.

Der Alte Turm stammte aus dem 12. Jahrhundert. Der Glockenturm beherbergte zwei Glocken aus den Jahren 1847 und 1855. Die Glocke aus dem Jahr 1847 war im ersten Weltkrieg eingezogen worden, um für Kriegszwecke verbraucht zu werden. 1922 wurde eine neue Glocke gegossen. Diese beiden Glocken hatten den zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden. Einmal im Jahr fand ein Turmfest statt, in dem die beiden Glocken „gebeiert“ wurden (das Tradition des Beierns hatte ich bei Marita im Freilichtmuseum Windeck kennen gelernt).

Die romanische Kirche war im Mittelalter zerstört worden, während der Turm aus dem 12. Jahrhundert diese Epoche unversehrt überstand. Im 18. Jahrhundert wurde ein Saalbau in romanischem Stil angebaut. Dieser neu geschaffene Baukörper formte die St. Ägidius-Kapelle. Altäre und Inneneinrichtung fügten sich in üppigem Barockstil ein.

1966 wurde eine neue Kirche gebaut und mit rückläufigen Zahlen von Kirchgängern wurde die Kirche nicht mehr genutzt. Der in die Straße gequetschte Chor muss tatsächlich ein Hindernis für den Verkehr gewesen sein. An dieser Engpassstelle hätte man eine Ampel schalten können, um den Verkehr einspurig durch das Nadelöhr zu führen. So wie ich dies beispielsweise aus Bonn-Oberdollendorf kenne, wo Fachwerkhäuser in die Straße hinein ragen. Aber abreißen ? In unserem Nachbarort, wo ich aufgewachsen bin, zieht sich genauso die Dorfstraße in scharfen Kurven um die Kirche. Dann fließt der Verkehr langsamer, LKW’s müssen aufpassen, man muss auf andere Rücksicht nehmen. Wieso nicht hier ?

Ich verließ den hell erleuchteten Platz, auf dem der Glockenturm seine messerscharfen Umrisse in die Höhe reckte. Die dumpfen Lichtkegel der Straßenlaternen fielen auf den Asphalt, der flüchtig unter meinen Rädern verschwand.

Im Original hatte ich die St. Ägidius-Kapelle nie kennen gelernt. Mit ihrer putzigen und kleinen Gestalt, so wie ich mir sie vorstellte, musste sie einzigartig gewesen sein. Oft waren es nicht die großen Dome oder Kathedralen, die mich faszinierten, sondern die kleinen Kirchen, die zum festen Bezugspunkt wurden und in denen sich der Mensch sich schnell heimisch fühlte.

Eine stille Melancholie überfiel mich. Meine Traurigkeit löste sich im Fahrtwind auf, der über mein Gesicht strich.

Donnerstag, 22. November 2012

Scheinselbständigkeit

… diesen Artikel hatte ich aus einem alten Manager-Magazin-Heft, das ich entsorgt hatte, kopiert.

Unter neue Formen der Ausbeutung im Arbeitsleben ordnete ich dies ein, daher war mir dieser Artikel zu schade zum Wegwerfen. Oder: wie die menschliche Arbeitsleistung zum Objekt der Kosteneinsparung wird.

So diffus wie der Begriff, so diffus bewegen sich die Tätigkeiten der Scheinselbständigen in einer Grauzone. Während im klassischen Arbeitgeber-/Arbeitnehmerverhältnis alles im Arbeitsvertrag geregelt ist, so wird beim Scheinselbständigen alles, was Geld kostet, auf den Auftragnehmer abgeschoben – das sind vor allem die Sozialabgaben. Dieser ist auf dem Papier selbständig. Er bewegt sich aber nicht auf Augenhöhe mit anderen Selbständigen, die mit ihrer Tätigkeit ordentlich Profit erwirtschaften – wie etwa Architekten, Steuerberater, Rechtsanwälte, Notare. Denn er arbeitet ausschließlich für einen einzigen Auftragnehmer. Logistik; Transportgewerbe; Kurier- und Paketdienste; Subunternehmer auf Baustellen; Messe-, Garten- und Landschaftsbau; Interviewtätigkeiten für Marktforschungsinstitute; Regalauffüller in Supermärkten; ihr Anteil steigt stetig, doch die genaue Zahl kennt niemand.

In unserer Gesellschaft, in der die Gewinnmaximierung die Leitlinie sämtlichen unternehmerischen Handels ist, ist dies so gewollt. Schon Friedrich Engels hatte zur Lage der arbeitenden Klasse in England festgestellt, dass die Konkurrenz der vollkommenste Ausdruck des in der bürgerlichen Gesellschaft herrschenden Krieges Aller gegen Alle ist. In diesem Konkurrenzkampf versucht stets der schlechter bezahlte den besser bezahlten zu verdrängen. Karl Marx fügte dem hinzu, dass sich der Arbeiter in eine Ware verwandelt. Der Lohn für seine Arbeitsleistung tritt an die Stelle zwischenmenschlicher Beziehungen.

Scheinselbständige werden de facto ausgegrenzt. Sie gehören nicht zur Firma dazu. Die Firma hat zwar einen Job. Aber zwischen Firma und ihnen verläuft eine Trennlinie, denn mit den Kollegen der Firma haben sie offiziell nichts tun. Mit ihrem Einkommen sind sie schlechter gestellt, gegen Krankheit sind sie nicht abgesichert, ihre Urlaubsvertretung müssen sie selber organisieren, für Saison-schwache Umsatzzeiten müssen sie selbst etwas zurücklegen.

Als Adam Smith 1776 sein Grundwerk „Wohlstand der Nationen“ schrieb, forderte er, dass es eine unsichtbare Hand geben müsse, die sich schützend über das Marktgeschehen legt. Andererseits führe der Kapitalismus zu einer Verelendung der Massen und zu Arbeitsbedingungen, bei denen die Menschen im Endeffekt für einen Hungerlohn schuften müssten. Im Laufe der Jahrhunderte, mit der aufkommenden Arbeiterbewegung und mit dem Entwurf eines Sozialstaates, haben sich diese Zustände deutlich gebessert. Doch mittlerweile sorgt der Markt wieder dafür, dass die Löhne hierzulande mit den Niveaus in China, Indien, Brasilien, Mexiko, Polen, Rumänien oder Bulgarien konkurrieren müssen.

Die schützende Hand des Staates hat sich längst zurückgezogen. Der Staat reguliert nichts mehr, sondern überlässt die Handlungsfelder der Wirtschaft. Der Mensch, der auf Arbeitssuche ist, hat dann nur die Wahl zwischen Pest und Cholera. Entweder zu Hause sitzen und Hartz IV oder ein Niedriglohnniveau, das irgendwie versucht, mit China, Indien, Brasilien, Mexiko, Polen, Rumänien oder Bulgarien mitzuhalten. So wie zur Zeit der industriellen Revolution Mitte des 19. Jahrhunderts, wird der Mensch so viel arbeiten, um seine existenziellen Bedürfnisse sicherstellen. Er wird sich also auf solche dubiosen Konstrukte wie die Scheinselbständigkeit einlassen.

Der Enthüllungs-Journalist Günter Wallraf hatte dazu die Arbeitsbedingungen beim Paketdienst GLS recherchiert. Je mehr sich die Weihnachtszeit nähert, um so mehr boomt die Paketbranche. Der Fahrer, mit dem Günter Wallraf unterwegs war, erhielt monatlich 1.200 € brutto als Entgelt für seine Dienstleistung. Dieses Bruttoentgelt setzte sich aus einer Vergütung von 1,30 € je Paket zusammen, so dass je Arbeitstag etwas mehr als 40 Pakete zuzustellen waren. Um diese Stückzahl zuzustellen, war der Fahrer inklusive Beladung täglich von 5 Uhr bis 19 Uhr unterwegs. Dies entsprach einem Brutto-Stundenlohn von 3 €. Um diesen Brutto-Stundenlohn zu erzielen, durfte der Fahrer nicht krank werden und ihm stand auch kein Urlaub zu. Um bei Krankheit einen Arzt aufzusuchen, musste er sich krankenversichern lassen, was die 3 € weiter schrumpfen ließ.

GLS hat nach der Ausstrahlung in Stern TV einiges dementiert. Ich gehe aber davon aus, dass Günter Wallraf einen Kern von Wahrheit beschrieben hat.

Das Unverschämte ist: der Staat duldet diese neuen Formen der Ausbeutung, wobei als Nebeneffekt Scheinselbständige aus der Arbeitslosenstatistik verschwinden. Und dies verkauft der Staat dann als Erfolg.

Dienstag, 20. November 2012

Augenoperation

Es war so, als wäre er in einem zeitlosen Zustand. Oder wie zwischen den Zeiten: die eine Zeitzone hatte er noch nicht verlassen, in der anderen Zeitzone war er noch nicht angekommen. Nichts zählte. Die Dinge verloren sich um ihn herum, seine menschlichen Regungen waren wie weggebrochen, zurück geschmissen war er auf seine eigene Existenz.

Seine Hände krampften sich an der Bettdecke fest. Seinem Körper, der in der Waagerechten lag, fehlte jeglicher Entschluss. Dumpf nahm er seine Umgebung wahr. Wie Wellen plätscherte an sein Ohr, was er hören konnte. Er bemerkte seinen regelmäßigen Atemzug. Das Blut hatte nicht aufgehört zu pulsieren. Die Verbindung mit der Außenwelt hatte sich langsam wieder hergestellt.

Die Augenoperation war überstanden. In der Stunde, in der wir ihn im Krankenhaus besuchten, schaffte er es, sich aufzurichten und, gestützt unter meinem Arm, auf die Toilette zu gehen. Was auf Anhieb funktionierte, war sein Durst: bestimmt zehn- bis zwölfmal reichte ich ihm Mineralwasser, er trank aus, ich stelle das Glas zurück, einige Minuten später trank er ein neues Glas Mineralwasser.

Was nicht funktionierte, war sein Sehvermögen. Das lag aber primär nicht an der Operation, sondern an dem Verband. Eine weiße Augenschale verdeckte sein rechtes Auge, zugeklebt mit dicken, fetten Klebestreifen, die sich bis unter die Wange herunter zogen. Die ausgekugelte Form hinderte ihn, seine Brille aufzusetzen. Diese hatte so dicke Gläser, dass er ohne Brille kaum etwas sah. Seine Umgebung musste wie Schatten gewirkt haben. Uns konnte er nur schemenhaft erkennen. Alles verschwamm wie in einem unruhigen See, dessen unregelmäßiges Wellenspiel nicht greifbar war. Signale erreichten ihn, aber wo war der Sender ?

Der Zustand war neu, hilfebedürftig zu sein. Er unterdrückte dieses Gefühl, ohnmächtig zu sein. Nach der Operation war sein Körper wie erschlagen. Ein Erschöpfungszustand legte ihn lahm, als wäre er gleich mehrere Marathon-Läufe hintereinander gelaufen. Vollgestopft mit Medikamenten, spürte er keinen Schmerz. Er dachte an gar nichts mehr, auch nicht an den nächsten Moment, wie es weitergehen würde. Dieser Zustand war schrecklich. Der Wille war da, aber das Aufstehen und die Bewegungen waren mit ganz viel Mühe verbunden, die Überwindung kosteten.

Die Operation sei ohne Komplikationen verlaufen, erklärten die Ärzte. Die Netzhautablösung sollte geheilt werden, indem Augapfel und Netzhaut getrennt worden waren. In die Hohlräume war eine Silikonflüssigkeit eingelassen worden, wodurch die Sehfähigkeit wieder hergestellt würde. Die Heilungsaussichten beurteilten die Ärzte als hoch.

Einerseits faszinierte mich, was die Medizin leisten konnte. Andererseits erschrak ich, wie kleinste Körperteile aufgeschnitten wurden, seziert wurden, auseinander genommen wurden und wieder zusammengefügt wurden. Alleine bei dem Gedanken, wie herum geschnibbelt wurde, lief es mir eiskalt den Körper herunter.

Dem hilflos ausgeliefert zu sein, lag jenseits des Verstandes. Das Schicksal hatte zugeschlagen. Gläubige Katholiken oder Protestanten dürften in dieser Situation wohl Gebete ohne Ende gesprochen haben. Ich war fassungslos, wie sich das Leben eines Menschen von einem Moment auf den anderen verändern konnte. In seinem blau-weiß gestreiften Schlafanzug, die Bettdecke von sich weggestreckt, konnte er lediglich daran glauben, dass alles gut wird. Dabei musste er den Ärzten vertrauen mit ihrem Können, all ihrer Erfahrung und all den anderen Operationen, die erfolgreich verlaufen waren.

Zwei Tage später telefonierten wir mit Freunden. Ihre Schwester hatte im Alter von 14 Jahren auch eine Netzhautablösung gehabt – das hatten wir so nicht gewusst. Eine Behandlung mit Silikon gab es damals noch nicht, sondern nur das Laserverfahren. Ihre Schwester ist nun 54 Jahre alt und ist seit dem 14. Lebensjahr erblindet.

Mittwoch, 14. November 2012

die Spendendose


Unmerklich, still, heimlich und leise, hatte sich die Spendendose in unser Haus geschlichen. Zuerst hatte ich sie auf unserem Wohnzimmertisch bemerkt, wo sie zwischen Zeitungen, Buntstiften und den gemalten Werken unseres kleinen Mädchens unterging. Einige Tage später, tauchte die Dose auf der Ablage in unserer Küche auf. Abgeschoben neben unsere Schütte, verschwand sie inmitten von lauter Krimskrams, das waren Figuren aus Überraschungseiern, eine leere Seifenblasendose, Rezeptkarten mit der Figur von Käptn Blaubär oder die Visitenkarte einer Gartenbaufirma, die längst in Vergessenheit geraten war.

Ich betrachtete die Spendendose. Ich las „Deine Hilfe zählt“ von der Deutschen Lepra- und Tuberkulosehilfe. An mein eigenes Gewissen appellierend, rückte ich die Dose auf die Vorderseite unserer Küchenablage. Weit genug weg von den ungespülten Gläsern, damit man sie auch sehen konnte.

Einige Tage später entdeckte ich Dose wieder: abgeschoben in die äußerste Ecke, verschwand sie zwischen einer Mineralwasserflasche, Wasserkocher und Küchenrolle.

Ich diskutierte mit meiner Göttergattin:
„Wo kommt die Dose her ?“
„Hat unser kleines Mädchen von der Schule mitgebracht …
… genau dieselbe Dose haben unsere großen Kinder schon vor mehr als zehn Jahren nach Hause gebracht. Deutsche Lepra- und Tuberkulosenhilfe, daran erinnere ich mich genau.“
„Aha.“ sinnierte ich vor mich hin.

Die Spendendose war also in die Rubrik Schule einzuordnen. Die Spendendose hatte in die Routine des Jahresablaufs Eingang gefunden, Spenden wurden unstrittig als sinnstiftend betrachtet. Die Schule machte es so, weil es immer so gemacht worden war.

Meine Göttergattin fügte hinzu:
„Wir spenden einmal jährlich an das Rote Kreuz. Dann backen wir Kuchen für die Buchausstellung und wir backen Plätzchen für den Weihnachtsmarkt. Das kommt dem Förderverein für die geistig Behinderten zugute.“
Das stimmte so.

„Wo willst Du sonst noch überall hin spenden ? Dürre in der Sahel-Zone, Flüchtlinge aus Syrien, Verwüstungen durch den Hurricane Sandy, die Tafel, Ärzte ohne Grenzen ....“
„Ich stelle fest, dass die Liste kein Ende nimmt.“

Die Spendedose konnte ich also vergessen. Sie passte genau in das Umfeld hinein, wo sie stand: mitten in all dem Krimskrams, den wir ausmisten mussten. Das Schicksal der Spendendose war vorgezeichnet: eine zeitlang würden wir überlegen, gemeinsam mit dem übrigen Krimskrams würde sie in einer Ecke herumstehen, bis sie irgendwann mit all dem anderen unnützen Zeug im Müll landen würde. Wofür wir spendeten, war anders sortiert.

„Ich verabscheue diese Trittbettfahrer. Je näher Weihnachten rückt, um so mehr Reklame bekommen wir von Spendenorganisationen. Die glauben, dass mit der frohen Weihnachtsstimmung wohl auch die Spendenbereitschaft steigt.“ setzte ich hinzu.

Ich dachte an Spendenorganisationen, die als Infopost gleichzeitig Weihnachtskarten verschickten, eine Banküberweisung beifügten und hofften, dass sich die Beglückten mit einer satten Spende bedankten. Da steckte durchaus Kalkül dahinter. Ähnlich wie bei Reklamesendungen, konnten die Rückläufe den Kosten gegenübergestellt werden. Die eingenommenen Spenden mussten höher sein als die Druckkosten für die Weihnachtskarten, sonst würden solche Spendenorganisationen so etwas nicht machen.

Wieder las ich „Deine Hilfe zählt“ auf der Spendendose. Der Hilferuf drohte in der Informationsflut, für welche Bedürftige in welcher Ecke der Welt gespendet werden konnte, zu versinken.

Freitag, 2. November 2012

Jean-Paul Sartre - Der Ekel


Zielloses Herumstreunen in Kneipen. Langeweile, Neugierde und Aufbruchstimmung trieben mich aus meiner Single-Wohnung heraus. Doch jedes Mal, wenn ich die Kneipenszene rund um die Kölner Universität aufsuchte, stumpfte deren Einfallsreichtum ab. Die Gesichter an der Theke waren austauschbar. Die Verbindungen, die ich knüpfte, waren kurzweilig und verschwammen in der Unbeständigkeit des Augenblicks. Ich wechselte in die nächste Kneipe. Oder in die Altstadt. Bis mich die Ziellosigkeit in meine Single-Wohnung zurück trieb.

Sartre’s Roman „Der Ekel“ beschreibt den Historiker Roquentin, der eine Biografie schreibt. Ebenso ziellos streift er durch die Kleinstadt Bouville und verbringt einen nicht unerheblichen Teil seiner Zeit in Cafés.

1938 geschrieben, ist der Roman „Der Ekel“ eines der frühen Werke Sartres (1905-1980). Im Gegensatz zu seinem Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“ (Original „l’être et le néant), stellt die Form des Romans eher die Ausnahme dar; der überwiegende Teil seines Werks sind philosophische Schriften.

Anders wie bei mir, als ich in Köln auf der Suche nach Kontakten war, sind Aufbruchstimmung und Ziellosigkeit bei Roquentin Dauerzustand. Dadurch ist der Roman schwerfällig zu lesen. Roquentin recherchiert in der Bibliothek für seine Biografie und streift, um sich abzulenken, durch Cafés. Seinen Mitmenschen steht er gleichgültig gegenüber, ja, er ist sogar eine Art Misantrop und sieht nur das Schlechte an seinen Mitmenschen. Er begegnet in den Cafés Spinnern, Besserwissern, Aufreißer von Frauen, Mitläufern. Menschen, denen ihre Mitmenschen gleichgültig sind, Menschen, die sich gegenseitig anschweigen. Menschen mit Vorurteilen, Fehlurteilen und kleinbürgerlichen Ansichten. Er empfindet Ekel gegenüber diesen Menschen. Er will diesen Ekel überwinden, indem er die Gründe untersucht.

Dabei klingen die Formulierungen, wie er seine Mitmenschen beschreibt, bisweilen merkwürdig:
„Jetzt ist der Regen da: er schlägt leicht gegen die Milchglasscheiben; wenn auf den Straßen noch verkleidete Kinder sind, wird er ihre Pappmasken aufweichen oder verschmieren …“
Oder:
„Der Aufseher kam auf uns zu: ein Mann mit dem Schnurrbart eines Tambourmajors. Er spazierte stundenlang zwischen den Tischen umher und knallte mit den Absätzen. Im Winter spuckte er ins Taschentuch, das er anschließend im Ofen trocknen ließ.“

Bei mir hatten sich irgendwann zwischenmenschliche Anknüpfungspunkte aufgebaut. Interaktion und Kommunikation begannen zu fließen, wenngleich sehr langsam. Später war das Herumstreunen nicht mehr ziellos, und Szenekneipen oder Cafés haben mich dauerhaft inspiriert.

Sartre ist aber kein Netzwerker, sondern Philosoph. Angeekelt, findet sich Roquentin an einem Punkt wieder, wo er inmitten all seiner gleichgültigen Mitmenschen seine eigene Existenz hinterfragt. Sich anlehnend an Descartes, erforscht er sein Inneres: ich denke also bin ich (cogito ergo sum). Zurückgeworfen auf sein eigenes Ich, muss Roquentin sich positionieren, sich selbst definieren.

Dieser Existenzialismus, mit dem Sartre ein Durchbruch gelungen ist, liest sich in dem Roman genauso schwerfällig. So sinniert Roquentin eine gefühlte Ewigkeit lang vor sich her, wie seine eigene Existenz zu beschreiben ist:
„… die Existenz ist wabbelig und rollt und schwankt, ich schwanke zwischen den Häusern, ich bin, ich existiere, ich denke, also schwanke ich, ich bin, die Existenz ist ein gefallener Sturz, wird nicht fallen, wird fallen, der Finger kratzt an der Luke, die Existenz ist eine Unvollkommenheit. Der Herr. Der schöne Herr existiert. Der Herr fühlt, dass er existiert … „
Usw.

Roquentin ist also auf Dauersuche nach seiner eigenen Existenz. Das hört sich widersprüchlich an, aber gerade dies hat mich an dem Roman fasziniert. Sartre schickt seine Romanfigur in diese Dauersuche hinein. Roquentins Lebensinhalt ist, ein Biografie zu schreiben (was eigentlich ein Ziel ist). Roquentin definiert sich ständig neu und sucht einen Neubeginn. Seine erste Erkenntnis ist, dass er keine historische Biografie schreiben will, sondern einen Roman. Dazu will er nach Paris umziehen. Zwischendurch trifft er sein Ex-Geliebte wieder, in die er sich hoffnungslos neu verliebt. Sie reist aber nach einigen Tag ab nach New York. Über den gesamten Roman hinweg endet die Dauersuche nach der eigenen Existenz darin, dass Roquentin vieles verwirft, sich ständig neu definiert und nichts von dem erreicht, was er sich vorgenommen hat. Und die Grundstimmung des Ekels ist nicht verschwunden.

Bezogen auf meinen eigenen Blog, denke ich bei Roquentin an den Post über Lieven Deflandre. Lieven Deflandre hatte eine pessimistische Grundhaltung gegenüber Politik, Staat, Gesellschaft, Alltag. Beziehungen zu seinen Mitmenschen pflegte er über soziale Netzwerke. In seinen Posts beschreibt er die Leere der Cafés in Gent, wo er gelebt hat, und wie ihn die Menschen in den Cafés abgestoßen haben.

Bei dieser Grundhaltung, wie Menschen wegsehen, wie in der Informationsflut Lebensziele abhanden kommen, wie in den Nachrichten nur über Negatives berichtet wird, wird dieser Menschentyp eines Roquentin mitten unter uns sein.