Mittwoch, 27. November 2013

Thomas R.P. Mielke - COLONIA-Roman einer Stadt


Es gibt solche Bücher, dessen Lust am Lesen mich nicht losläßt. Thomas Mielke hat mich mit seinem Buch „Colonia“ ganz, ganz weit zurück in die Stadtgeschichte Kölns geführt. Eine Stadt, in der es nur seltene Epochen gegeben hat, dass Köln an Bedeutung verloren hat. Römerstadt, christliche Märtyrerstadt, Hansestadt, Domstadt, preußische Festungsstadt, rheinische Industriestadt – Köln dürfte ungefähr die einzige deutsche Stadt sein, die es über alle Epochen hinweg es zu soviel Glanz und soviel Größe gebracht hat.

Jede Masse Stoff füllt somit einen Roman über diese Stadt. Mielke beginnt seinen Roman bei den ersten Siedlungen Kölns, bei den Germanen – oder präziser formuliert: bei den Ubiern, die die Römer bei der Stadtgründung Kölns als ansässigen Volksstamm integrierten. In Episoden wird der Leser durch mehr als 2000 Jahre Stadtgeschichte geführt.

Mielke wählt eine Form der Erzählung, die mir sonst noch nie begegnet ist. Wie in einer göttlichen Schöpfung erschafft er die Person des Rheinold, die stirbt und später in einem neuen Menschen wieder aufersteht. Er lebt sozusagen über 2000 Jahre lang, bis er den Jahrtausendwechsel am 31.12.1999 hoch oben auf dem Dom erlebt. Dies verleiht dem Roman Kontinuität. Rheinold schlüpft in immer neue Rollen, als römischer Krieger, als Dombauer, als Fischer oder als Schankwirt.

Gemeinsam mit Rheinold wählt Mielke Symbole, die nicht in jeder Episode, aber in regelmäßigen Zeitabständen vorkommen. Das ist zuerst seine treue Gefährtin Ursa, die mal seine Ehefrau ist und ihm einen reichlichen Kindersegen beschert. Mal erkennt er sie in der Menschenmenge, er begegnet ihr aber nicht. Mal wird sie Gattin seines Nebenbuhlers. Aus den Urzeiten des Opferkultes der Druiden erhält er ein Amulett, dessen Zauber ihn in Gefahrensituationen rettet. Während das Amulett dem heidnischen Glauben entspringt, setzt mit dem christlichen Glauben die Reliquienverehrung ein – Rheinold begegnen „Knöschelche“. Teer bedeutet so viel wie Tod, Äpfel so viel wie Liebe. Genauso kehrt Gedankenstaub wieder – als Sinnbild für Träume, Wünsche oder Visionen.

Mich hat gewundert, dass Mielke gar kein alt-eingesessener Kölner ist, sondern aus Detmold in Westfalen stammt (geboren 1940). Seit 25 Jahren lebt er in Berlin. In der Schriftstellerei ist er Quereinsteiger, denn er war lange Zeit Produktmanager bei Ferrero. Kindern dürften seine Produkte bestens bekannt sein, denn er war 1974 an der Produkteinführung des Überraschungs-Ei’s (Ü-Ei) beteiligt. Mielke schreibt seit 1960 im Genre des Science-Fiction-Romans. Ab 1988 kamen historische Romane dazu, unter anderem über Karl den Großen oder die Varusschlacht im Teutoburger Wald.

Sein Stil ist blumig, er taucht in Details ab, seine Schilderungen sind intensiv, die Beschreibungen der Stadt und der historischen Alltagsfiguren sind exzellent. Ich wage mir kaum vorzustellen, welche Arbeit an Recherche dahinter gesteckt hat. Detailgetreu beschreibt er, wie ein römisches Oppidum ausgesehen hat, wie das Essen aus Knoblauch, Öl und gekochtem Fisch um die Jahrtausendwende gekocht wurde oder welches Mobiliar in einer mittelalterlichen Hafentaverne gestanden hat.

Dann ist Mielke noch Querdenker, denn er verknüpft die Entwicklungen in Köln mit anderen geschichtlichen Ereignissen außerhalb Kölns. Die Ader des Rheins kam aus Südwestdeutschland und führte nach Holland. Darauf bauten sich Handelsbeziehungen auf. Er blickte nach Westen, als der Bischof Maternus aus Tongeren in Belgien nach Köln kam. Über viele Jahrhunderte hinweg war Aachen die Schnittstelle europäischer Politik, denn der Kaiser des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation wurde im Aachener Dom gekrönt. Er schaut nach St. Denis in Paris, das den ersten Anstoß zum gotischen Kathedralbau lieferte, also der Ur-Entwurf des späteren Kölner Doms.

Beklemmendes und bedrückendes läßt Mielke nicht aus. Die Normannen fallen in die Stadt ein, plündern alles, brennen die ganze Stadt nieder, so dass es Jahrzehnte dauert, bis Köln wieder zu neuem Leben erwacht. Die Kirche trägt auch ihren Teil dazu bei. Erzbischof Anno hat den Bischof von Münster zu Gast, damit dieser eine neue Kirche einweiht. Für die Rückreise nach Münster will er für einen Teil der Strecke ein Handelsschiff aus Rheinolds Flotte benutzen. Als Rheinold ihm dies verweigert, wird er als Strafe geblendet. Mielke beschreibt, wie hochnäsig die Preußen sind, als die Einweihung des Doms zu einer Einmann-Veranstaltung des Kaisers verkümmert. Beklemmend beschreibt er schließlich die Bombennächte im zweiten Weltkrieg unter dem Dom zwischen dem Geheul von Sirenen, dem Brummen von Flugzeugen und den Detonationen der Bomben.

Der einzige Kritikpunkt an diesem Buch ist die fehlende Dichte im späten Mittelalter und in der Renaissance. Jahrhundertelang tut sich nichts in Köln, was nicht der Wirklichkeit entspricht. Ein wenig muss ich entschuldigen, denn sonst wäre das Buch viel zu lang geworden. 543 Seiten lebendige Stadtgeschichte von Köln sind spannend und mitreißend geschrieben. Wenn Mielke das späte Mittelalter und die beginnende Neuzeit so beschrieben hätte wie das frühe Mittelalter – aus dem vergleichsweise wenige Quellen vorliegen – dann wäre bestimmt ein tausend Seiten dicker Wälzer heraus gekommen.
Die Stadtgeschichte Kölns hätte sicherlich so viel Stoff hergegeben. Tausend Seiten wären mir zuviel des Guten gewesen. 

Das Buch hat mir gefallen, wie anschaulich alles beschrieben ist. Nicht wie in Geschichtsbüchern, wo sich Schlachten und Herrscher und Jahreszahlen anhäufen. Sondern so, wie das einfache Volk gelebt hat.

Samstag, 23. November 2013

what's app


Ich lebe hinter dem Mond. Auf meinem Smartphone kriege ich es gerade auf die Reihe, zu telefonieren, im Internet zu surfen oder meinen E-Mail-Eingang zu sichten. Wenn ich eine SMS schreibe, zappeln meine Finger dermaßen nervös über die Tasten, dass ich mit Ach und Krach eine halbwegs richtige Nachricht abgesendet bekomme.

What’s app für meine Göttergattin zu installieren, wurde zur Herausforderung.  Als ich auf der Internetseite den grünen Button „installieren“ betätigte, weigerte sich das grüne Feld beharrlich, so etwas wie eine Installation zu starten. Mir fiel ein, dass wohl als erstes ein Google-Konto eröffnet werden musste. Sieben oder acht Installationsschritte waren zu bewältigen. An den Nerven zehrten die Geschäftsbedingungen und Datenschutzbestimmungen, deren Länge mich erschlug. Falsch gesetzte Haken drohten die Installation fehlschlagen zu lassen. All die Fehlermeldungen und Installationsschritte, die einfach stoppten, brachten mich zur Verzweiflung, bis ich es dann doch geschafft hatte.

Ich lebe trotzdem hinter dem Mond, die besten Apps nicht zu kennen. What’s app war in unseren spärlichen Frühstücksrunden bei der Arbeit ein heißes Thema. Jung und dynamisch nutzt what’s app, während alt und vergreist ohne what’s app gut im Alltag klar kommt. 

„Mich dürft ihr nicht fragen, ich habe keine Ahnung … „ registrierte ich zufrieden, als sich ein gleichaltriger Arbeitskollege outete. Er kannte what’s app bestens, denn seine Göttergattin tobte sich endlos während des abendlichen Fernsehprogramms darauf aus. Bisweilen grenzte dies an Unverfrorenheit, denn die Gespräche zwischen den beiden versickerten zwischen Smartphone, what’s app und Gesprächsfetzen, die von dem Tippen auf der Tastatur des Smartphones auseinander gerissen wurden. Schließlich verkroch er sich in einen Nebenraum, weil ihn die zerstückelten Dialoge nervten.

Es gibt keinen Zweifel, dass what’s app auch unser Leben verändert hat, aber auf sehr moderatem Niveau. What’s app kann sogar lustig sein. Videos wandern über what’s app hin und her. Wir beide lachen uns krumm und schief, wenn etwa eine Entführungsszene im Flugzeug ins Lächerliche gezogen wird und wenn Komisches über what’s app verbreitet wird.

Mit what’s app hat ein neues Wettrüsten der Mobilfunkkommunikation eingesetzt. Menschen werden in Gruppen aufgenommen, die Gruppen wachsen auf über zehn Personen an. Hin und Her vervielfacht sich in der Gruppe die Kommunikation. Es wird auf die Absendetaste gedrückt, was das Zeug hält. Einer meiner Arbeitskollegen gehört zu zehn what’s-app-Gruppen, bei denen innerhalb von zwei Stunden an die einhundert SMSn eingehen können. Schlimmer noch: es entsteht eine Gruppendynamik, dass von ihm innerhalb eines bestimmten Zeithorizonts eine Antwort erwartet wird. Willenlos ist er also seinem Smartphone und what’s app ausgeliefert.

So schlimm geht es bei uns zu Hause nicht zu. Ich hatte aber Gelegenheit mitzuerleben, wie dünn die Gesprächsinhalte auf what’s app sein können.

Beispielhaft und fiktiv habe ich bei uns zu Hause folgendes aufgeschnappt:

„Hat jemand aufgepasst, wie die Aufgabenstellung ist ?“
„Nööö … so richtig weiß ich das nicht.“
„Wir sollen mit allgemeinen Grundsätzen beginnen und mit Einzelbeispielen aufhören.“
„Ich habe das genau umgekehrt verstanden.“
„Wie bitte ?“
„Müssen wir überhaupt etwas machen ?“
„Kann mich mal jemand aufklären, über was ihr da redet ?“
„“Nööö … ich habe keine Ahnung.“
„Die Diskussion ist mir einfach zu blöd.“
„Ich bin dann mal weg.“
„Tschüss.“
„ Schönen Abend.“

Ein anderer Arbeitskollege klagt darüber, wie kurz die Kommunikation sein kann. „Hmmm“ … „Hey“ … oder „Hallo“ lauten gewisse Standardsilben, die kaum ein höheres Niveau erreichen. Er habe lernen müssen zu filtern, die Luftblasen der Mobilfunkkommunikation auszublenden, das wesentliche zu extrahieren.

Zu Hause habe ich festgestellt, dass sich what’s app und Bloggen sogar ergänzen können. Positiv gedacht, kehren in what’s app die Kommunikationsstrukturen wieder, der werthaltige Input kann sich vergrößern. Beim Bloggen habe ich prinzipiell dasselbe Problem, aus der Flut von Blogs das Lesenswerte heraus zu filtern, wichtiges von unwichtigem zu trennen und Luftblasen oder reine Selbstdarstellungen zu überlesen. What’s app oder Blogs sehe ich immer noch als Chance.

Man muss lernfähig sein, mit den modernen Formen der Mobilfunkkommunikation umgehen zu können.

Samstag, 16. November 2013

379 km/h

Phlippinen; Quelle: www.todayonline.com
… die Spitzenböen des Taifuns Haiyan lagen außerhalb meiner Vorstellungskraft. Dieses irrsinnige Tempo irgendwo zwischen ICE und Flugzeug hatte alles zerfetzt, was sich in den Weg stellte. Ich muss relativieren: es waren 314 km/h mittlere Geschwindigkeit, was der Zerstörungskraft ungehemmt freien Lauf ließ.

Ich erstarrte, war sprachlos. Ansonsten habe ich meine Probleme mit Katastrophen in Nachrichtensendungen, denn ich neige zum Wegschauen. Es gehört zum Geschäftsmodell von Nachrichtensendungen, in allen Winkeln der Erde nach Unglücken und Katastrophen zu suchen, so dass sie in all der Informationsflut untergehen. Aber die 379 km/h brachten meine Aufmerksamkeit in Fahrt.

Es sah so aus, als sei ein riesiger Rasenmäher über alles drübergefahren. Bäume waren wie Streichhölzer umgeknickt, Autos wurden wie Spielzeug durch die Luft gewirbelt, Dächer wurden weggerissen, Häuserwände stürzten ein, Strommasten knickten um.

Otto Dix - Flandern (1936)
Quelle: www.ottodix.org
Nur noch ein Torso von Landschaft war in den Philippinen übrig geblieben. Abgesäbelt, weggerissen, zerfetzt. Die kümmerlichen Reste der Natur erinnerten an die Schlachtfelder in Flandern oder in Verdun im ersten Weltkrieg. Menschen, die vor der höllischen Windmaschine in ihren Häusern Schutz suchen mussten, dürfte es kaum anders ergangen sein wie Menschen in Köln, die im zweiten Weltkrieg in Luftschutzkellern oder in Bunkern Luftangriffe überleben mussten. Was für die Kölner Bevölkerung die Detonation der Bomben und die Erschütterungen waren, das waren auf den Philippinen das Heulen des Windes, der peitschende Klang des aufgestachelten Meeres und die nicht zu bändigende Energie des Windes, der die Zerstörungskraft von mehreren Atombomben hatte. Die meisten Menschen waren sogar nackt und schutzlos ausgeliefert, denn ihre primitiven Bambushütten wurden gleich bei den ersten Windstößen hinweggefegt.

Ich schauderte. 3.637 Menschen wurden getötet, 3 Millionen hatten kein Dach mehr über den Kopf. Ich schüttelte den Kopf. Ich war mir bewusst, dass die Helfenden an ihre Grenzen stießen, ich hoffte, dass die Hilfe und Nahrung alle erreichen würden.

Köln 1945
Quelle: www.wikipedia.de
Die einen Katastrophen – Kriege – hatten sich die Menschen als Tötungsmaschinerie gegen andere Menschen selbst gemacht. Die anderen Katastrophen – Super-Stürme, Sintfluten, Unwetter – waren den Urgewalten der Natur entsprungen, wobei der Mensch bei den 379 km/h Windgeschwindigkeit ein Stück weit die Hände mit im Spiel hatte. Ein Klimaschutzabkommen ist nicht in Sicht. Heiß wird diskutiert, debattiert, gestritten, Uneinigkeit gezeigt. Solange ist die Menschheit Gefangener der eigenen Treibhausgase. Wir Europäer hatten Glück. Die Schreckenskammer der Wetterküche hatte am anderen Ende der Erde gewütet.

Die Menschen auf den Phlippinen mussten sich vorgekommen sein wie beim jüngsten Gericht. So wie auf den Schlachtfeldern von Ieper, Langemarck oder Verdun im ersten Weltkrieg. Oder in den Luftschutzkellern in Köln im zweiten Weltkrieg. So als hätte ihr letztes Stündlein geschlagen. So als würde draußen der Sensemann warten, um sie umzusensen und ins Jenseits zu befördern. So als wäre es ein Gottesurteil, ob die Menschen von einer herabstürzenden Häuserwand begraben werden oder nicht. So als würden die apokalyptischen Reiter an die Haustüren anklopfen und den Weltuntergang ankündigen.

Phlippinen, Quelle: www.techniasia.com
Der Weltuntergang wird auf sich warten lassen. Das Jahr 1000 war eine magische Zahl, als die Menschen im Mittelalter sich seelisch auf den Weltuntergang vorbereiten. Am 21. Dezember letzten Jahres flüchteten Menschenmassen in das südfranzösische Kaff Burgarach, um dem Weltuntergang, den der Maya-Kalender vorhersagte, zu entkommen. Der Weltuntergang ist ausgeblieben.

Ich tue mich schwer, die Welt als EINE Welt zu begreifen. Den Klimawandel und das jüngste Gericht werden wir nur als EINE Welt überleben. Katastrophen können Antriebe liefern. Ich denke, dass wir zumindest in Deutschland aus Seveso oder Bhopal gelernt haben. Es gibt Hochwasserschutzprogramme. Wir haben den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen. Die Energiewende umfasst ein breites Konzept zum Ausbau der erneuerbaren Energien.

Es tut sich durchaus etwas. Aber viel zu langsam. Allen voran die USA – gibt es Bremser auf der ganzen Welt.

Montag, 11. November 2013

graue Überraschung in der Fußgängerzone

Meist war es der gewohnte Alltagstrott. Morgens schritt ich durch die Fußgängerzone, Passanten schauten anonym vor sich hin, Geschäfte und Ladenlokale sehnten den Tag herbei, es war noch still. Kunden rieselten in Bäckereien hinein, verpflegten sich mit ihrer Vormittagsration und stierten draußen auf eine grinsende Gestalt, die mit „BUL Shoes“ auf einer Werbetafel ein perfektes Gehvergnügen versprach. Kram, Nippes, Billigware, Dies und Das, emotionslos rauschten die Warenauslagen an mir vorbei. In Erwartung des bevorstehenden Tages dümpelte mein Gefühlspegel auf einem niedrigen Niveau. Mal sehen, welche Überraschungen der Tag zu bieten haben würde. Meine Gedanken waren so sehr in die Ferne gerückt, als würde ich meine eigene Mondlandung planen.

Als ich die Metalltafel erreichte, wo 1967 das erste Stück Fußgängerzone gebaut worden war, kam die Überraschung. Wie angegossen steckten sie in ihren tadellosen und sauberen Uniformen. Die beiden Burschen waren so jung, als ob sie gerade erst die Schule beendet hatten. Die aschgraue Farbe der Uniformen stach in der Morgenfrühe heraus. Die Jungs mit den butterweichen Gesichtszügen, ihrer festgepflanzten Haltung und ihren suchenden Blicken waren markant. Mit ihren Schiffchen, den kurzgeschorenen Haaren und den nach oben gerichteten Ohren war die Zuordnung klar: Bundeswehr.

Was hatte die Bundeswehr in der Fußgängerzone zu suchen ? Einsam und alleine ? Ich rätselte, verlangsamte meinen Schritt. Sie kamen mir verloren vor, herum irrend, als wüssten sie nicht, wo sie ihren Platz in der Kaserne hätten. Der Fluß der Passanten nahm keine Notiz von ihnen.

Als ich auf den Marktplatz strebte, entwickelte sich eine ungeahnte Dynamik, denn sie schritten auf mich zu. Ihre Schüchternheit wandelte sich in eine Unerschrockenheit.

Zielgerichtet sprachen sie mich an: „Wollen Sie etwas für die Deutsche Kriegsgräberfürsorge spenden ?“

Normalerweise war ich gewarnt, je mehr sich die Vorweihnachtszeit näherte. Es war nicht Ostern, Muttertag, Pfingsten, Christi Himmelfahrt oder Fronleichnam, sondern das Weihnachtsfest, welches das allumfassende Fest der Liebe war. Die Spendenbereitschaft in der Bevölkerung war in der Vorweihnachtszeit besonders hoch. Als rational denkendes Wesen klopfte ich ansonsten im Vorfeld ab, für was ich spenden wollte. Teilweise grenzten die Spendenaktionen an Nötigung, wenn wir Weihnachtskarten von karitativen Organisationen zugesandt bekamen und dann um Spenden gebeten wurden.

Die harmlos aussehenden Jungs von der Bundeswehr, die ich mir nicht im Kampfanzug vorstellen konnte, warteten, ihre Blicke kreisten, ihre Spendendose zeigte nach unten. Sie rührten sich nicht. Zwischen ihrem glatten Kinn und ihrer fein rasierten Haut verzogen sie keine Miene.

Ich hätte vorbeigehen können, ohne dass sie mir nach geschaut hätten. Wahrscheinlich waren sie sich ihrer Mission auch bewusst, dass man sie auf den allgemeinen Spendenzug gesetzt hatte und dass sie sich nicht wehren konnten mitzufahren. Vielleicht waren sie auch froh, dass sie dem Drill in der Kaserne nicht ausgesetzt waren. Anstelle Befehl und Gehorsam konnten sie nun die Zeit auf irgendeinem Fleck in der Fußgängerzone totschlagen.

Ich grübelte. Mit Soldatenfriedhöfen verband ich vieles. Ich hatte sie in Flandern, in der Picardie, in der Champagne, in Lothringen und zuletzt auch in Königswinter gesehen. Sie hatten mich sehr bewegt. Sie waren Mahnung und Symbol, dass sich Kriege zwischen europäischen Staaten hoffentlich niemals wiederholen sollten.

Ich war keinen Moment unentschlossen. Ich spendete. Ein Euro wanderte in die Spendendose. War es nicht eine höhere Aufgabe, sich um die Toten der beiden Weltkriege kümmern ? Die beiden nickten zufrieden, wünschten mir einen schönen Tag. Ich entschwand in der Flüchtigkeit des Marktplatzes. Abseits der Marktstände verschwammen die Laufwege der Passanten. Die Ornamentik des Rathauses drückte auf den Marktplatz. Die Monumentalität des Platzes brachte mich einen Moment lang aus meinem Alltagstrott.

Hinab in die U-Bahn. Ich hatte ein gutes Gefühl, gespendet zu haben.