Mittwoch, 31. Dezember 2014

frohes neues Jahr !

Rauchschwaden über unserer Siedlung. Die Knallerei war wie jedes Jahr heftig. Kracher, Böller, Raketen schossen in die Höhe, mit unseren eigenen Raketen von LIDL hatten wir unseren Beitrag geleistet. In Sektgläsern prosteten wir unseren Nachbarn zu. 

So schön harmonisch, wie das Jahr begonnen hat, soll es dann auch weitergehen. Drinnen, lasse ich mich nun im WDR-Fernsehen vom Musiksound der 1970er-Jahre berauschen. Bee Gees, Three Degrees, Barry White, Donna Summer, Penny Mc Lean, Silver Convention, Musik, die ich, da zu wenig fetzig, in meiner Schulzeit wenig gehört habe. Heute verbinde ich mit dieser Musik so manche Erinnerung, daher bleibe ich bis tief in die Nacht vor dem Fernseher hängen. 

Da zu glatt, habe ich auch Abba nie viel abgewinnen können, mit einer Ausnahme: "Happy New Year". Eben dieses "Happy New Year" wünsche ich allen Lesern zu der Melodie von Abba. Dass das neue Jahr alles Gute bringen möge, viel Gesundheit, voller Harmonie und dass so manche Wünsche in Erfüllung gehen.

Mit Abba stoße ich auf Euch an:



Samstag, 27. Dezember 2014

Heilige Gertrud von Nivelles - doppelte Zerstörung 1940 und 1944

Unterführung mit Wandmalerei
Gäbe es nicht die Stadtwerke, dann würde die Stadtlandschaft an manchen Stellen in einer heillosen Wüste aus Beton, Blech und Plastik versinken. Unscheinbare Kästen, rechteckig, platt, emotionslos, vollgespickt mit der Technik von Stromverteilungen, werden zum echten Hingucker, wenn sie bemalt sind und die Schönheiten der Stadt zeigen. Auch an Bushaltestellen hübschen die Wandmalereien die Warterei auf – und vertreiben die Tristesse. Eine Unterführung wird zum wahren Erlebnis der Malerei - so in der Fußgängerzone. Und sie erzählt eine Geschichte vom doppelten Leid und von einer doppelten Zerstörung.

Gertrud von Nivelles, 625 südlich von Brüssel geboren, wanderte als Jugendliche nach Franken aus, und gründete dort im Erwachsenenalter ein Benediktinerinnenkloster. Später, das war 652, kehrte sie nach Nivelles zurück, und wurde dort Äbtissin desjenigen Klosters, das  ihre Mutter zuvor gegründet hatte. Sie war eine hoch gebildete Frau, sie befasste sich mit den christlichen Schriften, die auf der Bibel aufsetzten. Nivelles machte ihr Kloster zu einem Zentrum christlichen und abendländischen Denkens, indem sie Abschriften aus Rom kommen ließ, wie die Bibel auszulegen war, und sie gewann irische Mönche, damit das christliche Denken in neue Dimensionen vorstoßen sollte. Heilig gesprochen wurde sie, da sie Armen- und Krankenhäuser bauen ließ und eines der erste Pilgerhospize errichtete. Sehr jung, im Alter von 33 Jahren, starb sie.

Stiftskirche St. Gertrud in Nivelles; Quelle Wikipedia
Nach einer Legende machte sie Schluß mit einer Ratten- und Mäuseplage. Überall krochen Ratten und Mäuse aus Löchern und Ritzen hervor, sie drangen in Häuser ein, und selbst Scharen von Katzen konnten die Plage nicht eindämmen. Ratten und Mäuse machten sich über die Felder her, sie fraßen das Korn, und sie fraßen die Vorräte in den Kellern. In dieser Not betete Gertrud von Nivelles: mit einem Male verschwanden Mäuse und Ratten  - und sie wurden nie mehr gesehen. Viele Heilige haben ihr Spezialgebiet – Laurentius schützt vor Feuer, Hubertus schützt die Förster, Rochus schützt vor der Pest. Und die Heilige Gertrud schützt neben Ratten und Mäusen auch vor Ungeziefer. Also können diejenigen Haushalte aufatmen, in denen eine Gertrud wohnt, denn dann haben sie keinen Ärger mit Wespen, Motten, Küchenschaben, Kakerlaken, Wanzen und all diesen Insektenschwärmen, auf die jeder gut verzichten kann. 

Die Heilige Gertrud hat sich im Rheinland durchaus verbreitet, so in Düsseldorf, in Herzogenrath bei Aachen oder in Essen. Und in Bonn. Ihr wurde eine Kapelle geweiht, die Gertrudiskapelle, die 1258 erstmals erwähnt wurde. Sie stand in Rheinnähe nicht weit entfernt vom Alten Zoll.

Wandmalerei Gertrudiskapelle (1)
Doppeltes Leid und doppelte Zerstörung im Zweiten Weltkrieg. 1940 überrollte Hitler die Benelux-Staaten, um sich im Westfeldzug beim Erzfeind Frankreich zu revanchieren für die Schlappe der 1918er-Niederlage. Belgien geriet dabei zur Spielwiese des Krieges, um im Aufmarschgebiet Belgiens die Angriffslinien des Heeres frei zu bekommen. Im Mai 1940 wurde die Lage prekär, da es in Nivelles einen Flughafen der belgischen Luftwaffe gab, wo die Deutschen auch französische Flugzeuge vermuteten. Eine Aufforderung zur Kapitulation am 10. Mai 1940 ignorierten die Bürger aus Nivelles. Daraufhin bombardierte die Luftwaffe am 14. Mai 1940 die komplette Altstadt Nivelles samt der romanischen Kirche aus dem Jahr 1046, die andere Bauformen hatte als Maria Laach, aber mit ihren Ausmaßen und ihrem ausladenden Westwerk durchaus damit verglichen werden konnte. Gleichzeitig wurde mit der Bombardierung der vergoldete Reliquienschrein aus dem Jahr 1298 zerstört, der die Gebeine der Heiligen Gertrud aufbewahrte. Erst 1982 wurde dieser durch einen neuen Schrein aus Silber ersetzt.

Freude, Joy, Joie – so optimistisch geleitet die Wandmalerei durch die Unterführung in der Bonner Fußgängerzone. Das frische Grün des Siebengebirges haftet auf sprödem Beton, das Motto „weil Flair unbezahlbar ist“ wehrt sich gegen die Ausdruckslosigkeit. Beethoven und der Rhein tun ihr bestes, die Optik dieser düsteren Stelle aufzuwerten. Es ist die Kraft der Farben, die den wild daher gekraxelten Buchstaben „Z“ „U“ „M“ Flügel verleiht, so als hätte der blaue Geist aus der Sprühdose ganze Arbeit geleistet.

Und im Kreis der Wandmalerei rund um den Rhein, der Stadt und dem Schwung der Farben steht die Gertrudiskapelle, ein kleiner Bau in magerem Rosa, mit hohen gotischen Fenstern und nach oben gerichtetem Dach. Ratten krabbeln am Gewand, so dass die Heilige Gertrudis gleich im Gesamtpaket Schutz gegen Ratten, Mäuse und Ungeziefer aller Art anbietet. Am Fuß der Kapelle lese ich: „die Gertrudiskapelle stand bis zum 18. Oktober 1944 in Bonn am Rhein … „ Der düstere Ort der Unterführung verläuft weiter zur Oper, zum Alten Zoll, und ein Stück davor lag die Gertrudiskapelle.

Wandmalerei Gertrudiskapelle (2)
Doppeltes Leid und doppelte Zerstörung. Am 14. Juni 1940 eroberte die deutsche Wehrmacht Paris, mit der französischen Kapitulation am 17. Juni 1940 dehnte Hitler deutsches Territorium bis zum Atlantik aus. Mit der Landung in der Normandie schlugen die Alliierten vier Jahre später zurück. Ohnehin hatte längst der Bombenkrieg auf deutsche Städte eingesetzt, der auch die Bonner Altstadt nicht verschonte.

Nachdem die Gertrudiskapelle am 18. Oktober 1944 zerstört wurde, entschieden die Verantwortlichen in den 1950er Jahren, die Kapelle nicht wieder aufzubauen. In Rheinnähe gelegen, wurde das Gelände aufgeschüttet, um Hochwasserschutz zu schaffen und mit Wohnhäusern bebaut. Im Jahr 2010 ist es der hartnäckigen Initiative eines Travestie-Künstlers zu verdanken, dass kleine Reste der Kapelle noch gerettet werden konnten.

In diesem Jahr wurde die Wohnbebauung aus den 1950er Jahren abgerissen und durch einen postmodernen Wohnkomplex ersetzt, der ein wenig wie die Kranhäuser im Kölner Rheinauhafen aussehen sollte, aber neben dem historischen Ambiente des Alten Zolls vollkommen missraten aussah.

Dazu musste all das, was in den 1950er Jahren als Hochwasserschutz aufgeschüttet wurde, wieder ausgehoben werden. Das waren Trümmer und der Schutt aus dem Zweiten Weltkrieg, und dem Travestie-Künstler gelang es, Archäologen von der Stiftung Denkmalschutz zu mobilisieren, so dass in aller Seelengeduld gebuddelt und jede Scherbe seziert wurde. Im Umfeld des Zweiten Weltkrieges, was so alles zerstört worden war, waren die Ergebnisse eher bescheiden: ein Bildstock konnte rekonstruiert werden, Steine aus dem Fundament wurden geborgen, nicht zuordenbare Mauerreste.

Immerhin: die Suche nach dem gemeinsamen erlittenen Leid verband die beiden Städte. Aus Trümmerstücken der Bonner Gertrudiskapelle und der Stiftskirche von Nivelles in Belgien wurde eine Kreuzrose geformt. Sie steht nun an derjenigen Stelle, an der sich die Gertrudiskapelle bis zu ihrer Zerstörung befand. 

Montag, 8. Dezember 2014

neues Layout

So manchem Leser ist sicherlich aufgefallen, dass ich fleißig am Layout meines Blogs herum gewerkelt und herum gebastelt habe. Mir selbst kam der Hintergrund zu unruhig vor und die Themen, über die ich schreibe, zu unübersichtlich strukturiert. Zumal diese auch sehr heterogen sind, angefangen bei Rennradtouren über typisch Rheinländisches bis hin zu meinen Gedankenexperimenten, die ich lose in alle unterschiedlichen Richtungen schweifen lasse. Feststellen musste ich auch, dass all die familiären Dinge, über die ich anfangs in Tagebuchform geschrieben habe, nicht mehr so richtig in dieses Umfeld passen. "Panta rhei", alles fließt, so hatte einst Demokrit gesagt. Das dürfte auch für meinen Blog gelten, dass die Themen ständigen Veränderungen unterworfen sind. Es wäre vielleicht schön, wenn ich das eine oder andere Feedback bekommen könnte, wie mein Blog in seiner Struktur und seinem Aussehen auf den Leser wirkt (weniger die Inhalte). Über den einen oder anderen Hinweis, wo ich meinen Blog verbessern könnte, würde ich mich freuen.

Woran ich jedenfalls verzweifelt bin, das ist die Gestaltung der obersten Menüzeile. Irgendwie schaffe ich es nicht, in der Layout-Gestaltung der Blogspot-Software nebeneinander liegende Menüpunkte darzustellen. Die Menüpunkte  "Startseite; wer bin ich ?; worüber schreibe ich ?, ... " kriege ich nur untereinander dargestellt, dazu lassen sich die einzelnen Textfelder nicht separieren und mit dem dazugehörigen Text verlinken.

Mein Wunsch wäre es, eine Menü-Ziele in einer solchen Form darzustellen:






Kann mir jemand dazu einen Tipp geben ?

Unter "Text konfigurieren" habe ich versucht, die Menüzeile zu gestalten. Dabei bin ich fast wahnsinnig geworden, weil es nicht so geklappt hat, wie ich es mir vorgestellt hatte.


Ich gehe davon aus, dass es andere Gestaltungsformen gibt, die ich noch nicht kenne.

Vielen Dank vorab für die Mithilfe.


Freitag, 5. Dezember 2014

Bruttosozialprodukt

Angenommen, wir hätten die Freiheit, unseren Beruf nicht nach rationalen Kriterien auszuwählen. Also: Einkommen, Karriereplanung, Attraktivität des Arbeitgebers, Sicherheit des Arbeitsplatzes, wie interessant die Tätigkeit ist oder inwieweit die Tätigkeit zu den eigenen Fähigkeiten passt, das könnten wir alles ausblenden. Wenn wir diese Kriterien beiseite schieben, dann reduziert sich die Berufswahl auf das, was den Menschen aus seinem Inneren antriebt. Völlig losgelöst, würde er dann nach seiner eigenen inneren Berufung streben. Schul- und Studienabgänger sollten sich demnach nicht auf den Arbeitsmarkt, auf Stellenangebote und auf die eigene Karriereplanung stürzen, sondern sich eher in die Rolle eines Schatzsuchers begeben, der mit einem Metalldetektor den Boden abtastet, der auf Signale horcht und voller Freude losgräbt, wenn ihn die Ahnung eines Schatzes erreicht hat.

Die Verwerfungen können im Verlaufe des Arbeitslebens gewaltig sein, wenngleich durch Vorschriften des Arbeitsschutzes, den Einsatz von technischen Hilfsmitteln und ein verschärftes Umweltbewußtsein die Arbeitsplätze an für sich humaner geworden sind. Arbeitsteilig, eingepackt in Hierarchien, mit hoch spezialisiertem Fachwissen, mit ständigem Druck auf die Aufgaben, mit hoher Flexibilität in bezug auf die Anforderungen, lenkt die Arbeitswelt den Menschen in rigide Bahnen. Im Verlauf von Jahrzehnten können die Verwerfungen riesig sein, wenn anstelle von Freude und Vorfreude bei der Schatzsuche Ernüchterung herrschen angesichts verloren gegangener Lebensträume, einem Zeitgefühl, dass sich zwischen Powerpoint-Präsentationen, Meetings und endlosen Zahlenkolonnen zerstreut hat, und einem beschämenden Gefühl der eigenen Selbstwahrnehmung.

Genau auf die Suche nach solchen Verwerfungen hatte sich der Schweizer Schriftsteller Alain de Botton in seinem Buch „Freuden und Mühen der Arbeit“ gemacht. Neben Bürowelten, globalen Wertschöpfungsketten oder einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft im Rücken des Londoner Tower begleitete er in einem Kapitel einen Berufsberater, der insolvente Firmen aufsuchte oder auf Messen präsent war. Oder Menschen gingen aus eigenem Antrieb auf ihn zu, weil sie sich beruflich umorientieren wollten. Der Berufsberater nahm sich Zeit für seine Kunden, ganz im Sinne des Psychologen Abraham Maslow, dessen Spruch er sich über die Toilette gepinnt hatte: „Zu wissen, was wir wollen, ist nicht normal, sondern das seltene und nur mühevoll zu erringende Resultat einer psychologisch recht komplexen Leistung.“

Es überraschte mich nicht, dass bei sich bei so viel Einfühlungsvermögen die Fälle häuften, dass Angestellte ihren Job kündigten, um den Neigungen nachzugehen, zu denen sie sich tatsächlich berufen fühlten. So kündigte eine 37 jährige Abteilungsleiterin in einer Steuerberatungskanzlei ihren Job, um eine Tätigkeit in einem Verein gegen Obdachlosigkeit und Wohnungsnot zu beginnen. Der Berufsberater hielt Seminare ab über das Selbstvertrauen, um den Teilnehmern zu vermitteln, wie stark sie doch waren, welche ungeahnten Kräfte in ihnen steckten und dass sie Ziele suchen sollten. Und dass sie diese verwirklichen sollten in ihrer eigenen Geschichte, in der sie selbst der Drehbuchautor waren.

In der Tat, die Aktivitäten des Berufsberaters, die Persönlichkeiten, Lebensgeschichten und die daran hängenden Arbeitswelten komplett neu definierten, könnten in einer Massenflucht ausarten. Ungefähr so wie gegen Ende des Ersten Weltkriegs, als russische und habsburgische Soldaten demoralisiert Fahnenflucht begingen, in Massen zum Feind überliefen und so zum Untergang des Zarenreiches beziehungsweise der K.u.K.-Monarchie beitrugen. Dabei habe ich noch nicht einmal all die Billig-Jobs betrachtet, die schätzungsweise aus rein ökonomischer Not – überwiegend Frauen – diese Form des Lebensunterhaltes betreibt. Der Fensterputzer, die Supermarktkassiererin, die Telefonistin, die Kunden vom Wechsel des Stromanbieters überzeugen soll, oder die Servicekraft in einer Fast-Food-Kette, werden ihren Job eher in Ausnahmefällen als Freude und Vorfreude bei einer Schatzsuche empfinden,  wenn sie für wenig Geld die hohe Kunst beherrschen müssen, mit den Launen ihrer Kunden in allen Lebenslagen umzugehen.

Ich gehe davon aus, dass eine potenzielle Massenflucht zum großen Teil zu den künstlerischen Berufen einsetzen wird. Aus uns würde ein Volk von Dichtern, Denkern, Schriftstellern, Sängern, Rockmusikern, Malern, Grafikern, Fotografen, Schauspielern, Drehbuchautoren und Kabarettisten. Und natürlich Handwerkern, bei denen eine scharfe Trennlinie schon Wirklichkeit ist. Zu Hause wird mit viel Liebe und Fleiß gewerkelt, wenn Badezimmer renoviert werden, wenn tapeziert wird oder wenn Terrassen neu gestaltet werden. Am Arbeitsplatz werden die Aufgaben eher in lästiger Routine und ohne Freude abgearbeitet, wenn eine Klimaanlage in einem Großraumbüro instandgesetzt wird, wenn Fassadenelemente gestrichen werden oder eine Flachdachkonstruktion abgedichtet wird.

Aber ich denke, unser ökonomisches System hält solche Wanderungsbewegungen aus, dazu ist es zu stabil. Es verspricht Wohlstand, das hatte bereits Adam Smith in seinem wegweisenden Werk „Wealth of Nations“, das 1776 erschien, festgestellt. Er entwickelte ein Modell, in dem sich in einem Wirtschaftskreislauf der Wohlstand über Arbeitsteilung, optimaler Güterversorgung und Wachstum verbesserte.

Grundlage dafür war die Fabrikproduktion, in der Arbeitsschritte aufgeteilt wurden, Maschinen eingesetzt wurden und Tätigkeiten spezialisiert wurden. Dadurch wurde die Produktion gesteigert, die Wirtschaft wuchs, indem sie neue Absatzmärkte fand, die Einkommen stiegen. Trotz Massenverelendung in der Frühphase der industriellen Revolution, trotz Aufschwungphasen, die zwei Weltkriege nach sich zogen, trotz Klimadiskussion, die wir momentan erleben und trotz Rezessionen in den 1980er und 1990er Jahren, gelten Adam Smiths Theorien in ihren Grundsätzen bis heute. Wirtschaft ist ein Kreislauf, auf den alles einzahlt. Der Mensch wird zum Konsumenten, indem er Güter auf Märkten nachfragt. Dabei wird er zum Typ des „homo oeconomicus“, da er seinen Nutzen beim Güterkonsum maximieren will. Durch den Verbrauch entsteht wiederum Wohlstand, der auf volkswirtschaftlicher Ebene einen Gewinn abwirft. Dieser Kreis dreht sich vom Prinzip her bis heute weiter, da unsere Wirtschaft – letztlich dank Exporten in alle Welt – ungebremst wächst.

Dichter, Denker, Schriftsteller, Sänger, Rockmusiker, Maler, Grafiker, Schauspieler, Drehbuchautoren, Kabarettisten werden daher weiterhin Nischenexistenzen bleiben. Größere Aufstände wegen Verwerfungen innerhalb der Arbeitswelten sind daher nicht zu erwarten. Gleichwohl zollen die Arbeitsteilung, die nie das fertige Werk erscheinen läßt, globale Wertschöpfungsketten, die bessere Standards von Arbeits- und Umweltschutz weg verlagert, und ein Zwang zur Kosteneinsparung, der in manchen Firmen an Terrorismus grenzt, ihren Tribut.

Da die Aussteiger oder Nischenexistenzen in ihrer Anzahl sehr klein sind, sind die Auflösungstendenzen unseres ökonomischen Systems eher marginal. Wir werden daher alle weiterhin am Bruttosozialprodukt beitragen. Auch in diesem volkswirtschaftlichen Begriff lebt Adam Smith mit seinen Theorien fort, da das Bruttosozialprodukt in den 1940er Jahren als Meßzahl für den Wohlstand entwickelt wurde. Wir definieren uns über unseren Wohlstand. Wir selbst werden zum Bruttosozialprodukt, wenn wir aus dem Kreislauf des Wohlstands nicht ausbrechen können.

Samstag, 8. November 2014

Grundriss einer romanischen Kirche

Den Hinweisen eines Hobby-Historikers ist es zu verdanken, dass im Stadtteil Niederholtorf die Grundmauern einer romanischen Kirche aus dem 11. Jahrhundert frei gelegt wurden. Dieser Heimatforscher hatte am Rande des Siebengebirges ein sehr altes Gemäuer im Erdboden entdeckt, und er glaubte daran, dass der Bau des Gemäuers sehr viele Jahrhunderte zurück lag. Daraufhin informierte er das Rheinischen Amt für Denkmalpflege, die Ärchäologen gruben und sie wurden auch fündig. In ein Meter Tiefe gruben sie zwei Skelette aus. Daraufhin bestimmte die Universität Kiel mit Hilfe einer Radiokarbonuntersuchung das Alter der Skelette. Das Ergebnis war eine faustdicke Überraschung. Die Skelette, wovon eines einem vierjährigen Kind gehörte, datierten auf das Jahr 1024. Ebenso wurde die Gemäuer im Erdboden freigelegt; diese wurden auf das 11. Jahrhundert geschätzt. Der Grundriss der Mauern entsprach einer romanischen Kirche. Gleichzeitig wurde festgestellt, dass die Mauern im 13. Jahrhundert abgerissen wurden, wobei die Steine für umliegende Höfe und Wohngebäude genutzt wurden. Vermutlich, weil die romanische Kirche nur dreihundert Jahre existiert hat, taucht diese in keinerlei Besitzverzeichnissen von Abteien, Höfen, Herzögen, Grafen oder Königen auf. Die Kirche hat aber nachweislich an dieser Stelle am Rande des Siebengebirges gestanden.


An dieser Stelle ist das Kindergrab mit einer Grabplatte markiert.




Der Grundriß der Kirche ist mit Steinplatten markiert.



Sonnendurchflutet, ist das Gesamtbild beeindruckend.

Montag, 3. November 2014

Kaya Yanar - Live im E-Werk Köln

Raum, Ort, Zeit mussten stimmen. Es machte die Schaffenskraft von Orten aus, wo er gut drauf war, wo der Funke zum Publikum übersprang, wo sich eine magische Verbindung aufbaute, wo sich die Momente seiner Komik entluden und beim Publikum ankamen. Halle, Lichteffekte, die Anordnung von Stuhl- und Platzreihen, der Klang seiner Stimme, verstärkt im Widerhall zwischen Wänden und Decken, nacktes Zielgelmauerwerk, unromantische Stahlträger, die die Decke stützen. Das E-Werk in Köln-Mülheim, bis Mitte der 1980er Jahre befand sich dort das Umspannwerk des Elektro-Konzerns Felten & Guillaume, danach wurde die Fabrikhalle zur Veranstaltungshalle umgebaut. Genau an diesem Ort, an dem einst geschuftet, geackert und gearbeitet wurde, kam Kaya Yanar auf Touren. Seine Pointen saßen, und das Lachen des Publikums hörte nicht auf.

Kaya around the World, das war die Show, die uns letzten Samstag erfreute. Irgendwie hatte es sich auch in diesem Herbst ergeben, dass sich die Termine für die Comedy-Shows knubbelten. Am 24. August war es Bernd Stelter, am 4. Oktober Mario Barth, schließlich am 25. Oktober Kaya Yanar.

Und Kaya schwärmte davon, wenn sich die Gelegenheit ergab, dass ihm sein Fernsehsender RTL den einen oder anderen Drehtermin rund um den Globus besorgte. In seiner Rolle, in fremde Herren Länder mit fremden Sprachen verfrachtet zu werden, fühlte er sich als Türke sichtlich wohl. Es geschah in New York, wo er ganz zufällig in der Vorweihnachtszeit gelandet war. US-Amerikaner müssen sich zu wahren Neurotikern entwickeln, wenn es um Weihnachtseinkäufe geht. In der Drehtüre eines Warenhauses geriet er aneinander, zu zweit stand er mit einem jungen Herren zusammen, der mit seinen Ellbogen herum fuchtelte, pausenlos auf seinem Smartphone herum plärrte und sich nicht darum scherte, wo seine Beine standen. „You fucking american guy“ entglitt es schließlich Kaya, als ihm das Zusammengequetsche zu brenzlig wurde. Danach bäumte sich sein Gegenüber auf, er ballte seine Fäuste zusammen, sein drohender Blick durchbohrte ihn. Daraufhin zuckte Kaya seinen Kugelschreiber aus der Hosentasche, zeigte ihm diesen und der Amerikaner rannte weg, so weit er konnte. Womöglich hatte er James-Bond-Filme gesehen, in denen kleinste Technik in Kugelschreibern gewaltige Explosionen verursachen konnte.

Diese Leichtigkeit und Unbeteiligtheit, diese Neugierde in seinen Fernsehauftritten in „Was guckst Du“, das wirkte locker, leicht und gekonnt in all seinen sprachlichen Verwandlungen. Reiseangebote „All Inclusive“ in Anthalya an der türkischen Riviera. Russen waren ihm aufgefallen, wie sie, angeregt durch das ganztägige Speiseangebot, sich der Völlerei hingaben. Das inspirierte ihn, erst einmal mehrere Minuten pausenlos nur noch Russisch zu reden, mit solchen Wortschwallen, dass das Publikum sprachlos war. Und er brachte China unter in seiner Komik. Mit RTL hatte er einen Drehtermin, um mit Koala-Bären gefilmt zu werden. Abends im Hotel an der Bar sprach der Barkeeper ein paar Wortfetzen Deutsch, aber mit einem „L“ anstelle „R“, wie man es gemeinhin von Chinesen kennt. Dabei musste sich sein Verstand verbiegen, wenn er kein „Türke“, sondern ein „Tülke“ war. Zu seinem eigenen Erstaunen lernte schließlich der chinesische Barkeeper nach mehreren Tagen die korrekte Aussprache von „Türke“.

Sein Auftritt war wie eine Metamorphose, in der er sich dauernd selbst verwandelte. Er bedauerte, dass Französisch eine derjenigen Sprachen sei, die er nicht sprechen könne. Dabei überzeugte seine Selbstverwandlung. „Mon dieu“ oder „au revoir“, französischen Wortpassagen kamen kaum vor. Anstatt dessen schweifte er aus in dem französischen Akzent, er ahmte die Wortmelodie nach und vergaß beharrlich beim Buchstaben „H“ die Aussprache. Wenn er ins Schweizerdeutsch wechselte, konnte er von seiner Schweizer Freundin lernen. Mit der Türkei verband er sommerliche Temperaturen, er suchte die Wärme und mied die Kälte, so dass er mit Skifahren ganz und gar nichts anfangen konnte. Dennoch krempelte seine Freundin ihn um und brachte ihn auf die Ski-Piste. Er hakte sich daran fest, wieso er eine Skibrille für 150 Schweizer Franken kaufen müsse, während er die restliche Ausrüstung leihen konnte. Wozu eine Skibrille, wenn er ohnehin mit dem Skifahren nichts anfangen konnte ? Den Disput mit dem Verleiher erzählte er in Schweizerdeutsch – das war so viel Komik in Situation und Sprache, die man Live erlebt haben muss.

Kaya Yanar ließ nicht aus, die Verbindung zu seinen Wurzeln zu schlagen. Er sprach mir aus meinem eigenen Herzen, dass man mit Lateinisch nicht allzu viel anfangen könne im Leben – mit wenigen Ausnahmen von Medizinern oder Botanikern, denen die lateinischen Pflanzenbezeichnungen auf der Zunge zergingen. Er orientiere sich lieber daran, was man machen könne und bewegen könne. Er sei mehrfach verortet, in Deutschland und der Türkei. Er fühle sich sogar als Weltbürger – ein wenig im Sinne von Goethe – wobei seine Standbeine in Deutschland Frankfurt und Köln waren. In Frankfurt war er aufgewachsen und hatte Abitur gemacht – und an seinem Gymnasium hasste er Lateinisch wie die Pest. 1999 war er in Köln im Küppers-Biergarten entdeckt worden, der heute nicht mehr existiert. Seitdem führte ihn RTL regelmäßig nach Köln.

Als die Show vorbei war, gingen an diesem 25. Oktober die Lichter im Kölner E-Werk aus und dann, hell durchflutet, wieder an. Es war Tradition, dass ihn die letzten Live-Auftritte im Jahr nach Köln führten. Arbeiter und Fabriken gehörten für ihn zur Bodenständigkeit. Das durchdrang auch seine Komik, die nichts kompliziertes war. Und der sich jeder, ganz einfach und leicht, nähern konnte. Auf der ganzen Welt.

Montag, 4. August 2014

Anna von Bayern - Wolfgang Bosbach "Jetzt erst Recht !"

Mir erging es anders als Wolfgang Bosbach.

Besuch bei der Gastroentologin. Ich war gelöst, als ich im Zimmer der Ärztin saß, die meine Darmspiegelung vorgenommen hatte. Ich dachte an nichts schlimmes, ich war erleichtert, dass das unangenehme Verschlingen von Massen an Flüssigkeit vorbei war. Das Foto einer blonden Schönheit lächelte mir aus einem hölzernen Rahmen von der Wand entgegen. War es ihre Tochter ?

„Alles in Ordnung. Kein Polyp“ teilte mir die Ärztin das Ergebnis mit. In diesem Moment war ich noch erleichterter, zumal sich sporadisch und zeitlich begrenzt Blut in meinen Stuhlgang hinein gemischt hatte.

Das war anders bei Wolfgang Bosbach, Vollblutpolitiker, ein Unruheherd, ständig in Bewegung. „Es darf keinen Stillstand geben, sonst schlafe ich ein“ so beschreibt er seine Antriebsmechanismen. Zwischen Wahlterminen, Sitzungen, Redeveranstaltungen und Fernsehauftritten bleibt da kaum Zeit für eine regelmäßige Krebsvorsorge. 2010 Krebsoperation an der Prostata. Da hieß es, er hätte noch eine Lebenserwartungszeit von 23 Jahren. Doch ein Jahr später war alles komplett anders. Wie ein Streuselkuchen war sein Körper voller Krebs, das stellten die Onkologen in einer Computertomografie fest. Nun unterzieht sich Bosbach, 62 Jahre alt, in Intervallen einer Strahlentherapie, um überhaupt noch ein paar restliche Lebensjahre für sich zu haben. Und das bei unverändert hoher Taktung.

In meinem Blog befasse ich mich weniger mit politischen Themen. Im Tagesgeschäft der Massenmedien wird so viel über Politik berichtet, kommentiert und kritisiert, dass ich nicht unbedingt meinen eigenen Senf dazu geben muss. Dafür befasse ich mich gerne mit allem, was aus dem Rheinland kommt. Und bei Wolfgang Bosbach kann man den rheinischen Tonfall nicht überhören. Freundlich, bestimmt, kurzweilig, mit klaren Standpunkten und hoher Sachkenntnis habe ich ihn stets wahrgenommen, kurzum: ein sympathischer Zeitgenosse.

Die Bild-Journalistin Anna von Bayern hat über mehrere Monate den Spitzenpolitiker begleitet. Ihre Einblicke ins politische Tagesgeschäft sind stets spannend, anekdotenhaft geschrieben, verzahnt zwischen dem Berufspolitiker und seiner Familie. Machtstrukturen schillern durch. Diese sind mehr starr als beweglich: aus Wahlergebnissen, aus Koalitionsverträgen, aus den Verhältnissen im Bundestag/Bundesrat, aus Besetzungsoptionen durch die Landesverbände der Parteien, vorbestimmt durch Kenntnisse und Fachwissen, das Verhältnis zur Bundeskanzlerin spielt naturgemäß auch eine Rolle – und dieses ist tendenziell nicht schlecht, aber nicht gut genug. So ergab es sich, dass er sein Lebensziel, nämlich einmal Minister zu werden, nicht erreichte, worüber er sich nicht beklagt.

Es empfiehlt sich, auf der richtigen Seite zu stehen, das sagt Wolfgang Bosbach. Für offene Meinung, unbedachte Rede oder Ironie ist nur bedingt Platz, das sind seine Erfahrungen im Politikgeschäft. Anna von Bayern zitiert die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel, um dies zu verdeutlichen: „Die Demokratie darf nicht zu einer Herrschaft von wenigen Meinungen werden, in der die Führung der Masse diktiert, was gilt. Die Führung ist dabei auf ihre eigenen Interessen, ihrem persönlichen Nutzen und dem Erhalt der Machtstruktur ausgerichtet. Die Ziele der Gruppe, die von ihr dominiert wird, geraten in den Hintergrund. Diese Elite führt keine inhaltlichen Debatten mehr … Diese Elite glaubt, auf die großen Diskurse über die Fragen unserer Zeit zu verzichten. Stattdessen werden die Debatten in Randthemen geführt, wo die Elite sich mit großen Kraftanstrengungen profiliert.“ Dieses Schema passt auf die Machtstrukturen einer Angela Merkel, aber auch auf andere Bundeskanzler.

Der Weg hinein die politische Karriere des Wolfgang Bosbach war ungewöhnlich, denn er begann sein Berufsleben als Einzelhandelskaufmann bei der er Konsumgenossenschaft Köln eG/Coop West AG in Köln, wo er später Supermarktleiter wurde. Das merkt man bei diversen Fernsehauftritten, dass er kein Standardrepertoire von Floskeln herunter betet, sondern kundenorientiert auf Sachfragen  eingeht, mit den Gesprächspartnern redet und einen gemeinsamen Dialog führt. Und dies mit den Stärken eines Rheinländers: er behandelt andere mit Respekt, er kann Menschen nehmen, wie sie sind, mit Humor löst er spannungsgeladene Situationen.

Über die Kommunalpolitik  in Bergisch Gladbach schaffte er es in den Bundestag. 1994 wurde er Bundestagsabgeordneter, seit 2009 verantwortet er gemeinsam mit 37 Abgeordneten den Innenausschuß. Dort beackert er innenpolitische Themen, genauer gesagt, innere Sicherheit, Ausländer, Asylverfahren, Katastrophenschutz, Datenschutz und IT-Sicherheit.

Die Partei von Wolfgang Bosbach habe ich nie gewählt, doch seine konserative Einstellung ist mir nicht unsympatisch. „Multikulturelle Gesellschaft“, das war ein Schlagwort der 1990er Jahre, ein Stück überlebte Hippie-Bewegung und Musikfestivals, auf denen man nach den Rhythmen der ganzen Welt tanzte. Die Welt sollte ein kleines Dorf sein, fremde Kulturen sollten uns inspirieren.

Das ist definitiv gescheitert, weil sich Parallelgesellschaften gebildet haben, die sich abschotten, mit Integration nichts zu tun haben und Angriffspunkte für rechtsextremistische Tendenzen bilden. Dazu kommen islamische Gotteskrieger, die solche Parallelgesellschaften mobilisieren und Bomben und Terror importieren wollen.

Von den Träumen einer multikulturellen Gesellschaft habe ich mich längst verabschiedet. In der Zuwanderungskommission versucht Bosbach dagegen zu halten. Ausländer müssen sich einordnen in die kulturellen Lebensverhältnisse, sie müssen an Deutschkursen teilnehmen. Das Zuwanderungsgesetz wurde überarbeitet mit der einen Stoßrichtung, dass ein Straftatbestand der illegalen Einwanderung eingeführt wurde und mit der entgegengesetzten Stoßrichtung, dass die Fälle der Duldung weiter gefaßt wurden, weil sie sich über den Arbeitsmarkt integrieren können. Zudem konnte sich in einigen Ländern sich das Kopftuchverbot in öffentlichen Ämtern durchsetzen. Andere Vorstöße, wie die Vorratsdatenspeicherung, den elektronischen Fingerabdruck in Ausweisen oder umfassendere Observationen durch das Bundeskriminalamt, konnte er nicht durchsetzen. Wolfgang Bosbach meint dazu kurz und knapp, dass er an maßgeblicher Stelle mitgearbeitet hat, nicht mehr und nicht weniger. Über sich ergehen lassen musste er all die Ermittlungspannen bei der Aufklärung der NSU-Mordserie. Dauerthema wird für lange Zeit die NSA-Überwachung sein.

Um alle Themen zu besetzen, übt er sich im Kunststück der Multipräsenz. „Es darf keinen Stillstand geben, sonst schlafe ich ein“ mit dieser Einstellung nimmt er seine Lebensaufgabe in der Politik wahr. Das geht so weit, dass er seine Präsenz in den Massenmedien über seine Gesundheit stellt. Er geht keinem Mikrofon aus dem Weg und bremst für keine Kamera. So sank im März 2013 seine Herzleistung auf unter 10 Prozent, ein neuer Herzschrittmacher samt Defibrillator gegen den plötzlichen Herztod musste eingepflanzt werden. Schon zwei Tage später saß er im Fernsehen und stellte sich Fragen in einer Talkrunde bei Sabine Christiansen.

 „Jetzt erst Recht“ beschreibt den Kern eines Politikers, der offensiv mit seiner Erkrankung umgeht und als Allroundgenie in allen Ecken der Innenpolitik mitmischt. So leicht gibt er nicht auf.  Mit seiner Krankheit blickt er nach vorne. „Wenn Du mit der Krankheit fertig bist, stehst Du ebenfalls die Probleme in der Politik durch“ so sieht er seinen Krebs nicht als Hemmnis, sondern als Antriebsriemen.

Er lebt intensiver und zitiert dabei die Toten Hosen: „An Tagen wie diesen wünscht man sich Unendlichkeit“.

Sonntag, 1. Juni 2014

Altäre in der Pfarrkirche St. Nikolaus in Königsfeld/Eifel

Die Jahreszahl vor der Eingangstüre hatte mich neugierig gemacht. 1226, das war der romanische Kirchenbau, doch danach sah St. Nikolaus in Königsfeld ganz und gar nicht aus. Gerne besichtige ich Kirchen, wenn sie interessant und vor allem alt aussehen. Ich trat ein, und auch von innen registrierte ich, dass der Umbau im neugotischen Stil aus dem Jahr 1912 die romanischen Stilelemente dominierten, die sich im Chor wiederfanden. Was mich aber anzog, waren weniger die Reste romanischen Baustils, sondern die Altäre.


Der Hochaltar mit der freistehenden Altarwand stammt aus dem Jahr 1912.


Selten ist die Form des aus runden Bögen geschnitzten Marienaltars.


Aufwändig gestaltet ist der Aufsatz des Nikolausaltars.


Dem Heiligen Maternus, das war der erste Bischof in  Köln, wurde ein Altar geweiht, da er auf seinem Weg von Köln nach Trier in der Nähe von Königsfeld übernachtet hatte.

Mittwoch, 28. Mai 2014

Agnostizismus

Im Gerichtssaal kam es zum Eklat.

Regungslos sackte Murat K. in seinem Stuhl zusammen und krallte sich in seiner gefütterten Winterjacke fest. Seine Finger zupften an dem buschigen Bart, der in seinem Gesicht wie Unkraut wucherte, als der Richter das Urteil verlas. Die Revision wurde abgelehnt. Murat K., rechtskräftig verurteilt, das war im Oktober 2012, einem Polizisten hatte er mit einem Küchenmesser in den Oberschenkel gestochen, als dieser sich dem prügelnden Mob aus ProNRW und Salafisten entgegen stellte. Dann stieg der Zorn in ihm auf, sein Gesicht wurde feuerrot, er schmetterte den Richtern seinen Hass entgegen, so wie bei seiner Verurteilung vor anderthalb Jahren. ProNRW habe Mohammed-Karikaturen gezeigt, dies beleidige alle Moslems, Recht und Gesetz würden dieses Unrecht decken, die Polizei hätte bestraft werden müssen. Hass und Feindschaft würden gesät, wenn die Verantwortlichen nicht die Regeln des Islams annehmen würden. Schließlich packte er ein Grundgesetz, schleuderte es auf den Boden und trat mit den Füßen darauf herum.

So wie andere abends durch die Fernsehprogramme zappen, von Soap-Opera zu Dokumentation, von Krimi zu Quiz-Shows, von politischen Sendungen zu Reisereportagen, so zappe ich gerne auf meinem Internet-Radio herum. "Das philosophische Radio", freitags von 20.05 Uhr bis 21.00 Uhr auf WDR5, hat es mir angetan. Jürgen Wiebicke moderiert, da höre ich gerne zu, er lädt einen Experten ein und die Zuhörer können fleißig ihren Senf dazu geben. Es geht da um das radikal Böse im Menschen, vom Recht auf Nichtwissen in unserer Informationsgesellschaft oder welche Strategien man gegen die Knappheit der Zeit entwickeln kann.

Bei diesem Thema hatte ich zunächst weggehört, weil ich falsch zugehört hatte: Agnostizismus. Ich hatte gehört: Atheismus. Beides hängt wiederum zusammen, und die einzelnen Begriffe sind doch etwas komplett anderes. Das Wort „Agnostizismus“ kommt aus dem Griechischen, wobei die Vorsilbe „a“ für die Verneinung steht und „gnoein“ wissen bedeutet. 400 vor Christus erwähnt Protagoras erstmals den Agnostizismus, weil er keine Möglichkeit sieht zu wissen, ob Götter existieren oder nicht.

Erst im 19. Jahrhundert greift ein Biologe, das ist Thomas Henry Huxley, die Idee des Agnostizismus wieder auf und verbindet ihn mit dem Gottesbeweis. Die Menschen glauben an Gott – dann gehören sie einer Weltreligion an – oder sie glauben nicht an ihn – dann sind es Atheisten. Der Biologe verknüpft die naturwissenschaftliche Sichtweise mit dem Gottesbeweis: die Naturwissenschaft wird nicht beweisen können, ob es Gott gibt oder nicht, daher ist der Atheismus die falsche Gegenposition zum Glauben an Gott. Diese Gegenposition ist vielmehr das Nicht-Wissen oder die fehlende Urteilskraft des Menschen, den Dingen richtig auf den Grund zu gehen, um aus dem Status des Halb-Wissens heraus zu finden, nämlich der Agnostizismus.

Ich selbst staune, dass die Dinge, an die wir glauben, zahlreicher sind, als ich vermutet hatte. Glaube wird jeder mit Kirche und Religion verbinden, aber die spirituelle Dimension, Wahrheitsfragen, Nicht-Erklärbarkeit, Visionen eines Propheten, das Zusammenfinden in einer Gemeinschaft, Richtlinien wie die zehn Gebote: unabhängig davon, ob der Glaube auf einen Gott gerichtet ist, haben sich solche Konstrukte im Alltag durchaus verbreitet. Der Agnostizist fällt dann dadurch auf, dass er keine Position bezieht. Es ist sein freier Wille zu entscheiden, mit welchen Dingen er sich befasst. Er sucht sein eigenes Glück, indem er die einen Dinge ignoriert und die anderen Dinge, die es ihm Wert sind, teilt und sich in eine Gemeinschaft des Glaubens einbringt. „Leben und leben lassen“, in diesem Grundsatz könnte man diese Lebenseinstellung zusammen fassen.

Ich schaudere selbst, zu welchen Schrecken ein falsch verstandener oder fanatischer Glaube fähig ist. Erst waren es die Kreuzzüge, in denen der christliche Glaube Angst, Schrecken und Kriege verbreitet hat. In der Renaissance waren es Protestanten und Katholiken, die Kriege gegeneinander geführt haben. Nun ist es läppische dreißig Jahre her, seitdem sich in Ulster und Nord-Irland die letzten Protestanten und Katholiken die Köpfe eingeschlagen haben.

Der 11. September 2001 löste eine Initialzündung aus. Betrachtet man die Zahl der Kirchenaustritte, so geht die Gemeinschaft der gläubigen Christen kontinuierlich zurück. Dieses Defizit an religiösem Glauben füllt nun der Islam aus. Mehr noch: in der Perspektivlosigkeit von heruntergewirtschafteten Staaten lassen sich islamische Gotteskrieger rekrutieren, die in ein straff organisiertes System eingebunden werden, weltweit vernetzt sind und die vereint werden durch den Hass gegen das Christentum und die westliche Welt.

Der Glaube hat die Flugzeuge in das World Trade Center gesteuert, der Glaube hat die Feuerwehrmänner, die in Schutt und Asche nach Überlebenden gesucht haben, zu Helden gemacht. Der Glaube hat den Krieg gegen Afghanistan angefacht, um den Lenker islamischen Terrors, Osama bin  Laden, zu finden. Und der Glaube hat Geduld und Ausdauer bewiesen, um so lange nach dem Versteck zu suchen, um den Inbegriff des bösen Glaubens, Osama bin Laden, schließlich in Pakistan zu finden.

Das Gedankengut eines Murat K. ist in die Köpfe so mancher Islamisten, Salafisten und wie sie alle heißen, gewandert. So wie er, rücken die Gotteskrieger aus den Elendsvierteln in Islamabad, Kairo oder Algier aus, um die böse westliche Welt zum besseren Glauben des Islams zu überführen. Murat K. bereut nichts. Er würde wieder so handeln. Sollte sich die Polizei in den Weg stellen, würde er wieder zustechen.

Glücklicherweise sind Murat K. und seine Gesinnungsgenossen eine Randerscheinung. Die Islamisierung unserer Gesellschaft schreitet zwar voran, doch 99% der Moslems haben mit dem Gedankengut eines Murat K. nichts gemein. Christen und Moslems leben spannungsfrei miteinander, das beweist der Alltag, weil sie die Religion des anderen nicht verstehen müssen - was auch eine Form des Agnostizismus ist.

All die Ismen des 20. und 21. Jahrhunderts setzen auf Glauben und Weltanschauung auf, sie haben Massen mobilisiert, die durch Führer willenlos gelenkt wurden. Der Nationalsozialismus hat kein tausendjähriges Reich gebracht, sondern den Völkermord an den Juden. Kapitalismus und Kommunismus haben die Welt in Gut und Böse aufgeteilt. Auch der Kommunismus hat seinen Teil am Völkermord beigetragen, als 1975 bis 1979 auf den „killing fields“ in Kambodscha nicht kommunistisch gesonnene Menschen systematisch ermordet wurden. Mit dem Mauerfall 1989 ist die Ära des Kommunismus zu Ende gegangen, aber glaubt die Weltbevölkerung seitdem nur noch an den Kapitalismus ?

James Bond, Geheimagent 007, hat es gewagt. In den Zeiten des Kalten Krieges hat er dem Kommunismus getrotzt, mutig, kühn, gewagt, hat er es mit den Feinden in Rußland und Afghanistan aufgenommen.  Ausgefeilte Technik hat ihn aus brenzligen Situationen herausgebracht. Er ist zum Retter der Welt geworden, der verhindert hat, dass im entscheidenden Moment die Welt durch eine Atombombe ausgelöscht worden wäre. Zwölf Romane hat Ian Flemming geschrieben, in seiner Rolle als Agent des britischen Geheimdienstes, hat er James Bond zur Glaubensfigur gegen den Kommunismus verewigt.

Der Glaube polarisiert, er läßt nur noch die Wahl zwischen Gut und Böse. Das ist so wie beim Fußball. Fans tun sich zusammen, pflegen ihr Gemeinschaftsgefühl, marschieren ins Stadion, schwenken Fahnen und feuern ihre Fußball-Mannschaft an. Sie glauben daran, dass ihre Mannschaft das Spiel gewinnen wird. Es gibt einen klar umrissenen Feind, der als gegnerische Mannschaft auf dem Platz steht. Wenn alles gut läuft, dann gewinnt eine Mannschaft (oder das Spiel geht unentschieden aus), und anschließend sind die einen Fans todtraurig und betrübt und die anderen Fans im siebten Fußballhimmel oder auch beide Fanblöcke zufrieden. Wenn es schlecht läuft, dann gibt es Randale, so wie zuletzt in der 2. Fußball-Bundesliga beim Abstiegsduell Dynamo Dresden gegen Arminia Bielefeld. Als Dresden 2:0 zurücklag, explodierten Böller auf dem Spielfeld, Leuchtraketen wurden auf den Rasen geschossen. Als das Spiel aus war und Dresden nach einer 2:3-Niederlage in die 3. Liga abgestiegen war, drohten Fans von Dynamo Dresden auf einem Plakat: „Ihr habt eine Stunde Zeit, um unsere Stadt zu verlassen.“ Nachdem sie sich geduscht und angezogen hatten und aus ihren Umkleidekabinen das Stadion verließen, musste die Polizei herhalten, um die Spieler beider Mannschaften vor dem Mob randalierender Fußballfans zu schützen. 

Beim Fußball versteht sich Agnostizismus von selbst, weil es dort nichts zu verstehen gibt. Klar, der Trainer gibt den Spielern eine Taktik an die Hand, seine Mannschaft hat einen guten oder schlechten Tag erwischt, der Rest ist Kampf, Einsatz, Übung, Training, Schnelligkeit, Technik, Teamfähigkeit, Herz, Leidenschaft. Rational zu verstehen, Urteile zu bilden, im Sinne einer Erkenntnistheorie, gibt es nicht beim Fußball. Kurz gesagt: 22 Spieler rennen dem Ball hinterher und in wessen Tor der Ball am häufigsten landet, diese Mannschaft hat verloren.

Agnostizismus ist eine natürliche Einstellung, die andere Fußball-Fans ihren Leiden oder Freuden überläßt. Neutralität, Mäßigung, nicht wissen, den anderen nicht bekehren wollen, ihn so lassen, wie er ist, sich selbst nicht als Heilsbringer verstehen: von solchen Einstellungen könnte unsere Gesellschaft profitieren, um einen falsch verstandenen oder fanatischen Glauben zu entschärfen.

Donnerstag, 22. Mai 2014

Nietzsche im Rheinland

Seine Stippvisite an den Rhein war kurz, dauerte gerade ein Jahr und war voller Neugierde, Wechselbäder und Abstürzen,  so wie sein restliches Leben.

Als Sohn eines Pfarrers war Friedrich Nietzsche in Naumburg in Sachsen aufgewachsen, sein Vater starb, als er vier Jahre alt war. Nachdem er 1864 das Abiturexamen im Internat in Schulpforta abgelegt hatte, wurde ihm die Welt in der sächsischen Provinz zu eng. Seine Lehrer machten ihm ein Studium in Bonn schmackhaft.

Nachdem das Rheinland 1815 der preußischen Rheinprovinz zugeschlagen wurde, verlagerten die Preußen die Kölner Universität zu Rheinischen Wilhelms-Universität nach Bonn. Der Aufbau der Bonner Universität wurde zum Politikum, denn die Preußen förderten Lehre und Forschung finanziell. Sie beriefen namhafte Professoren nach Bonn, um das Rheinland fester an Preußen zu binden, denn die Unterschiede zwischen Mentalitäten und Weltbildern waren gewaltig. So hatte Bonn in dem Fach „klassische Philologie“, das Nietzsche studieren wollte, einen hervorragenden Ruf.

Diese Argumente überzeugten. Nietzsche wollte auch an der rheinischen Lebensart teilhaben, an Frohsinn und Geselligkeit, heraus aus der Herrschaft von Gottes Wort  und den Glauben an den preußischen König in Naumburg, hinein in die Weinstuben entlang des Rheins, wo man in den Tag hinein leben konnte und die Lebensqualität mit der Romantik des breiten Stroms stieg.

In der Bonngasse 518, unweit vom Beethovenhaus, fand er eine Studentenbude. Die Briefwechsel mit seinem Elternhaus waren rege. „Ich glaube, sehr zufrieden sein zu können", schrieb er an seine Mutter, „monatlich 5 Thai. Miete. Sehr schönes Haus. Es ist mir sehr lieb, bei meinen Wirtsleuten essen zu können für fünf Silberlinge sehr gute Hausmannskost, Suppe, Gemüse und Fleisch."

Am 16. Oktober 1864 begann sein Studium. Neben „Klassische Philologie“ belegte er Vorlesungen in „Theologie“, um dem Vorbild seines Vaters zu folgen. Doch vorläufig stand weniger der Vorlesungsplan auf der Agenda, sondern das Kennenlernen der Annehmlichkeiten des Rheinlandes durch Ausflüge, Dampferfahrten auf dem Rhein, sowie Kneipen mit entsprechender Bierseligkeit. Gegenüber seiner Mutter geriet er ins Schwärmen: „Unsere Rheinreise war kostbar, nimm das Wort, wie Du willst, es trifft immer. Ich habe diese Tage schon wieder Sehnsucht empfunden nach diesem grünwogigen prachtvollen Strom."

Mit diesem Hintergrund trat er in die Burschenschaft „Frankonia“ ein, um gemeinsam mit anderen Studenten rheinischen Frohsinn zu pflegen und Einigkeit und Recht und Freiheit eines deutschen Vaterlandes herauf zu beschwören. Das Fechten war ein Ritual, das zu festen Zeiten geübt werden musste. Ein Fechtduell, das Nietzsche in Freundschaft begann, hinterließ bleibende Spuren: als er einen Gegner dominierte und ihn zum Abbruch zwang, fuhr dieser ihm im Zorn mit dem Degen quer über die Nase, das Blut quoll in Strömen und hinterließ eine bleibende Narbe.

Tief beeindruckt war er vom Rolandsbogen, der Ziel eines Ausflugs mit seiner Burschenschaft war. Als sie mit dem Schiff in Rolandseck ankamen, wurden sie mit Böllerschüssen begrüßt. Sie wanderten aufwärts zum Rolandsbogen, das Abendessen dauerte bis sechs Uhr. Danach ging es lustig und hoch her. Nietzsche schrieb über diesen Ausflug an seine Mutter: „Wir waren ausnehmend vergnügt und sangen viele selbstverfasste unsinnreiche Lieder. Draußen war es Dämmerung geworden, der Mondschein lag auf dem Rhein und beleuchtete die Gipfel des Siebengebirges, die aus dem bläulichen Nebel hervortraten. Wir blieben bei einem edlen Rheinwein, während die anderen Champagnerbowle tranken. Die Gegend ist dort wirklich drei Ausrufezeichen werth."

Nietzsche genoß seine Ungebundenheit in vollen Zügen. Das Rheinland formte er als das absolute Gegenteil zu der kleinstädtischen Ereignislosigkeit in Naumburg. Er entwickelte einen Drang zur Musik, besuchte Hebbels „Nibelungen“ im Bonner Schauspielhaus, einen Klavierabend mit Clara Schumann, in Köln Beethovens „Fidelio“ und Meyerbeers „Hugenotten“. 1865 besuchte er das Niederrheinische Musikfest mit einer Aufführung von Händels „Israel in Ägypten“ im Kölner Gürzenich.

In Köln geriet er sogar vollends auf Abwege, als ihm ein Einheimischer ein Etablissement für Nachtschwärmer vorführen wollte. Dort sah er sich plötzlich umgeben von einem halben Dutzend weiblicher Erscheinungen in Flitter und Gaze, in halbnackten Posen, so berichtete ein Mitstudent. Er war so irritiert, dass er erstarrte und es ihm seine Sprache verschlug, dass er in einem Bordell gelandet war. Dann ging er instinktmäßig auf ein Klavier los als das einzige seelenhafte Wesen in dieser dekadenten Gesellschaft. Er schlug einige Akkorde an, die seine Erstarrung lösten und ihn fluchtartig ins Freie beförderten.

Derweil wuchsen in besorgniserregendem Umfang seine Unkosten. Regelmäßig beschrieb er seiner Mutter seine desolate finanzielle Situation. Sie schickte ihm Geld über einen monatlichen Wechsel, und wenn dieser ankam, ließen offene Schulden davon kaum etwas übrig.

Ab dem Sommersemester 1865 veränderte sich seine Einstellung. Er blickte zurück und stellte fest, dass er jede Menge  Zeit vergeudet hatte. Einen Studienfortschritt konnte er kaum feststellen. In „Klassische Philologie“ hatte er wenige, in Theologie keine Vorlesungen besucht. Die Schuld gab er seinen Mitstudenten in der Burschenschaft, die ihn mit ihren „rohen Trinksitten“, ihrem „Biermaterialismus“ und ihrer schlechten Urteilsfähigkeit vom Studium abgehalten haben. Er wendete sich vom Rheinland ab.

Er trat aus der Burschenschaft aus, wobei die Art und Weise, wie er austrat, sich wie ein roter Faden durch seine philosophischen Schriften zog. Er brach mit den Konventionen. Er wollte alles Gewesene niederreißen, er stellte alle Grundsätze in Frage, in seinen neuen Denkansätze verwarf er Denkmäler wie Platon, Aristoteles oder Kant, deren Denken Jahrtausende lang überall als richtungsweisend gegolten hatte.
Er reichte sein Gesuch ein und erörterte mit der Burschenschaft seine Gründe für den Austritt. Diese war nicht gerade begeistert darüber, in welchem Umfang er diese schlecht geredet hatte, und wie seine Sichtweisen innerhalb der Studentenschaft Beine bekommen hatten. Die Burschenschaft war außer sich, sie raffte sich aber zusammen und verlieh ihm eine ehrenvolle Entlassung mit Band, um die Form zu wahren.

Der Bruch mit den Konventionen folgte, als er sich bereits zum folgenden Wintersemester in der Universität in Leipzig eingeschrieben hatte. Dass die Bonner Ära zu Ende gegangen war, hing mit seinem zunehmenden Schuldenberg zusammen, und damit, dass gleichzeitig sein Professor in „Klassische Philologie“ nach Leipzig wechselte. Dieser sollte später die Karriere Nietzsches befördern. Aus Leipzig schickte er nun das Band, mit dem er ehrenvoll aus der Burschenschaft entlassen worden war, nach Bonn zurück und bat sozusagen um einen Austritt aus dem Austritt. Die gemeinsamen Erlebnisse, die gemeinsame Vergangenheit mit der Burschenschaft wollte er auslöschen, er wollte nichts mehr damit zu tun haben.

Nietzsches Karriere nahm seinen Lauf, als er 1870 eine Professur an der Universität Basel annahm. Er verschlang die Schriften Darwins, der mit seinem Beweis, dass der Mensch vom Affen abstammt, das religiöse Weltbild in neuen Dimensionen in Frage stellte. Gott als persönlicher Urheber und Lenker war tot. Das nüchterne Menschenbild aus Zahlen, Daten, Fakten gewann an Konturen. Der Mensch wurde zu einem Tier mit einem leistungsfähigen Prozessor im Gehirn degradiert.

Fortan arbeitete er an den Fragen, was die nüchterne naturwissenschaftliche Sicht für das Selbstverständnis des Menschen bedeutete, auf welche Art und Weise die naturwissenschaftliche Sicht einen Mehrwert liefern konnte, wie der Mensch sich in diesem Umfeld neu positionieren konnte. Die einleitenden Sätze in seiner Schrift „Zur Genealogie der Moral“ zeigen die ständig fortlaufende Suche des Menschen auf: „Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst. Das hat seinen guten Grund. Wir haben nie nach uns gesucht – wie sollte es geschehen, dass wir uns eines Tages fänden ?“ Seine Analysen sind stets brilliant und liefern neue, frische Denkweisen.

Rückblickend, erinnerte sich Nietzsche als Professor in Basel gerne an seine Studienzeit im Rheinland zurück. 1872 beschrieb er in einer Vorlesung seinen Studenten den Ausflug auf den Rolandsbogen . Er erzählte: „Es war eine jener vollkommenen Tage, wie sie, in unserem Klima wenigstens, nur eben diese Spätsommerzeit zu erzeugen vermag: Himmel und Erde im Einklang ruhig nebeneinander hinströmend, wunderbar aus Sonnenwärme, Herbstfrische und blauer Unendlichkeit gemischt. Wir bestiegen, in buntesten, phantastischen Aufzuge, an dem sich der Trübsinnigkeit aller sonstigen Trachten, allein noch der Student ergötzen darf, ein Dampfschiff, das zu unseren Ehren festlich bewimpelt war, und pflanzten unsere Verbindungsfarben auf seinem Verdeck auf. Von beiden Ufern des Rheins ertönte ein Signalschuß, durch den nach unserer Anordnung ebenso die Rheinanwohner als vor allem unser Wirt in Rolandseck über unser Herankommen benachrichtigt wurde. Ich erzähle nun nichts von dem lärmenden Einzug, vom Landungsplatze aus, durch den aufgeregt-neugierigen Ort hindurch, ebenso wenig von den nicht für jedermann verständlichen Freuden und Scherzen, die wir uns untereinander gestatteten.“

Viel zu jung, begann der Absturz von Nietzsche. Seine Schaffensperiode war kurz, denn bereits im Alter von 35 Jahren plagten ihn Migräne und Magenbeschwerden, so dass er seine Lehrtätigkeit in Basel aufgeben musste. 44 Jahre alt, brach er so sehr zusammen, dass man das Krankheitsbild heute als Schlaganfall bezeichnen würde. Im Alter von 55 Jahren starb Nietzsche.

Sonntag, 11. Mai 2014

Servatius-Kapelle

Kapelle auf der Waldlichtung
Ich musste genau hinsehen, denn schon zweimal hatte ich die kritische Stelle übersehen. Bewußt bin ich auf der Suche nach unbekannten Flecken im Rheinland, deren hohe Anzahl mir dauerhaft beweist, wie wenig ich meine eigene Heimat kenne. Aus dem Rheintal habe ich mich von Bad Honnef  aus hoch gearbeitet. Langgestreckt ist der Schwung, mit dem die Kurve ausholt. Diesmal folgt mein Rennrad nicht dem Knick der Kurve, sondern an dem Wanderparkplatz mache ich eine Kehrtwendung, eine Stichstraße steigt durch dichten Wald mächtig an, die Vision einer Lichtung umreißt ihr Ende. Unberührtheit und Abgeschiedenheit breiten sich auf einer Wiese jenseits von Bad Honnef aus. Die Servatius-Kapelle beeindruckt mit ihrem zartgelben Anstrich.

Die Frage bohrt sich in mir fest, wieso dieser Heilige, der einhundertfünfzig Kilometer westlich in den Niederlanden in Maastricht begraben ist, ins Rheinland gekommen ist. Auf der Lichtung strahlt die Servatius-Kapelle eine ausgewogene Harmonie aus. Tannen und Ahorn rahmen den schmalen Baukörper ein. Das Tageslicht fließt durch die kleinen, zusammen gepressten Rundbogenfenster hindurch.

Grabkammer in Maastricht
Ein unendlich große Lücke klafft. Die Jahreszahl 1755 über dem schmalen, vergitterten Fenster liegt um Größenordnungen von derjenigen Jahreszahl entfernt, die sich vor seinem Grab befindet. Virtuell reise ich von Bad Honnef nach Maastricht in den Niederlanden. In Kellergewölben, hinter einer verschlossenen Eisentüre, ruht der Heilige Servatius in der Krypta der gleichnamigen Kirche. Sein Grab ziert die Aufschrift „Sepulture de St. Servais 384“. Dabei leuchtet die Jahreszahl 384 magisch in mir auf, denn diese Jahreszahl fällt in die römische Antike. Zu dieser Zeit bröselte das römische Reich weg, durchdrungen von wilden Germanen, aber satte eintausendfünfhundert Jahre liegen zwischen diesen beschaulichen Stätten in Maastricht und Bad Honnef. Bad Honnef ist kein Einzelfall: weitere Kirchen in unserer Nähe in Siegburg, Bonn-Friesdorf, Bornheim, Hennef-Winterscheid und Köln-Ostheim tragen den Namen dieses Heiligen aus den Niederlanden.

Die Wege, wie Heilige importiert und exportiert wurden, sind undurchdringlich bis verworren, zumal ein offzielles Verfahren zur Heiligsprechung durch den Papst erstmals 990 belegt ist. Heilige sind Leitbilder, haben Vorbildfunktion und verkörpern eine Richtschnur menschlichen Handelns. Damals wurden sie so verehrt wie heutzutage Helden, Stars und Idole. Heilige mussten ein Leben voller heroischer Tugend gelebt haben oder Wunder gewirkt haben. Märtyrer, Bischöfe, Mönche, Gelehrte, allgemein: Menschen, die jede Menge Gutes getan hatten, konnten heilig gesprochen werden. Jede Stadt, jede Region, jedes Land bekam ihre Heiligen. Um ihre Vielzahl zu überschauen, muss man sortieren. Wichtig oder unwichtig, lokal, regional oder im gesamten Christentum kursierend; dabei wäre der Heilige Servatius in die mittlere Kategorie einzusortieren, denn seine Existenz beschränkt sich auf  die Niederlande, Belgien und Deutschland. Heilige als Exportgut. Das gilt vor allem für die Apostel, die Evangelisten oder Märtyrer aus der Zeit der Christenverfolgung im römischen Reich.

Die Geschichte des Heiligen Servatius ist schnell erzählt. Als sich das Christentum im römischen Reich gefestigt hatte, wurden die größeren römischen Städte zu Bischofssitzen, darunter auch Tongeren im heutigen Belgien. Als Bischof von Tongeren reiste Servatius nach Rom, wo ihm in einer Vision vorhergesagt wurde, dass die Stadt Tongeren durch plündernde Hunnen zerstört wurde. Servatius reiste zurück, warnte die Einwohner von Tongeren, verlegte den Bischofssitz nach Maastricht, das dann von den plündernden Hunnen verschont wurde.

Eingang mit der Jahreszahl 1755
Die Erbauer der Servatius-Kapelle in Bad Honnef haben sich wohl gedacht, dass doppelt besser hält, denn ich finde den Heiligen gleich zweimal, das erste Mal als Skulptur in einer Mauernische, das zweite Mal im neugotischen Altar. Das Innere der Kapelle ist ausgewogen, nicht überladen, schlicht und einfach hübsch. Ich spüre, wie ich zur Ruhe komme. Ein Ort der inneren Einkehr. Ebenso ein Ort der Inspiration, wo ich stillstehe und gleichzeitig Ideen und Gedanken in einer solchen Fülle entstehen, dass ich sie nicht festhalten kann.

Die Jahreszahl 1755 über dem Eingang markiert einen Wendepunkt, denn sie war nach ihrer Zerstörung neu aufgebaut worden.

„In schwerer Zeit um 1755
Wurde ich durch emsigen Fleiß erbaut
Manch Pilger hier auf St. Servatius Hilf vertraut
Nun schlug der Krieg mir tiefe Wunden
Doch treue Helfer haben sich gefunden
Die in der Not zu helfen sind bereit
Hast Du ein Scherflein für zu spenden
Soll Dank und Segen Dir der Himmel senden.“

So formuliert eine hölzerne Tafel im Inneren die höfliche Bitte. Doch welcher Krieg ist gemeint ? Manches bleibt Spekulation. Kriege, die das Rheinland verwüstet haben, liegen weit weg. 1714 war der spanische Erbfolgekrieg zu Ende gegangen, Napoleonische Truppen fielen erst 1795 im Rheinland ein.

Auf der Waldlichtung verhüllt sich die Servatius-Kapelle in Schweigen, denn sie verbirgt ihr tatsächliches Alter. Zurück blickend, wurde die Servatius-Kapelle 1670 erstmals in den Chroniken eines Franz Xaver Trips erwähnt. Die Pest hatte im Rheinland gewütet, und die Menschen wollten der Seuche begegnen, indem sie beteten und Gott herauf beschworen. Christen aus Bad Honnef und Aegidienberg, die eine Christengemeinde im Rheintal und die andere auf den Höhen des Siebengebirges, taten sich zusammen und riefen eine Prozession zur Servatius-Kapelle ins Leben. Wie alt die Servatius-Kapelle wirklich ist, weiß indes niemand, da Quellen vor 1670 fehlen. Darüber darf nun spekuliert werden. Eine Spekulation nennt ein Datum um 1550, da erstmals in den Quellen eine Grenzmarkierung zwischen den Löwenburger Herren und Hunferode (heute Bad Honnef) genannt werden. Die Stelle der Grenzmarkierung könnte mit der Servatius-Kapelle übereinstimmen.

Skulptur des Heiligen Servatius
Wenn ich zurück rechne, ist die Zeitdifferenz von eintausendeinhundert Jahren riesig, dass Servatius in Maastricht begraben worden ist und im Siebengebirge diese Kapelle gebaut worden ist. Heilige werden kopiert, exportiert, importiert, globalisiert. Dazwischen hängt der mittelniederländische Dichter Heinrich von Veldeke, der um 1150 geboren wurde. Dichtkunst gab es seit der Antike, und in der frühhöfischen Epik haben Dichter im Mittelalter das Leben ihrer Helden dargestellt. Heinrich von Veldeke war fasziniert vom Heiligen Servatius, er schrieb, dichtete, erzählte seine Lebensgeschichte rauf und runter, stilisierte ihn als Helden.

Nun  geschah erstaunliches innerhalb der engen Grenzen des mittelalterlichen Europas, denn es muss Verbindungen von der mittelniederländischen Dichtkunst nach Bayern gegeben haben, denn 1169 erschien die Legende des Heiligen Servatius in den Schriften des Otto von Wittelsbach – der gehörte dem bayrischen Adel an. Fortan wurden Kirchen in Bayern dem Heiligen Servatius geweiht. Wechselwirkungen zwischen Fürstentümern und Staaten entstanden im Mittelalter mit einem Zeitversatz von Jahrhunderten. Der Heligen Servatius wanderte von den Niederlanden nach Bayern und dann ins Rheinland, was auf die merkwürdige Konstellation zurückzuführen ist, dass die Bayern im Rheinland zweihundert Jahre lang das Sagen hatten.

Das hing wiederum mit der Reformation zusammen. Als der Kölner Erzbischof Truchseß von Waldberg drohte zum Protestanten zu konvertieren, riefen die Kölner Kurfürsten 1583 bayrische Truppen zu Hilfe, die den Kölner Erzbischof vertrieben und einen Bischof aus dem Hause Wittelsbach einzusetzen. Das erklärt zum Teil eine gewisse Häufung von Kirchen im Rheinland, die dem Heiligen Servatius geweiht sind, wenngleich es auch Kirchen gibt, deren Erbauungsdatum – wie die Servatiuskirche in Siegburg – nicht in die Epoche der Wittelsbacher im Rheinland fällt.

Innenraum der Kapelle
Die Geißel der Pest ist längst ausgerottet, aber dennoch haben sich die Prozessionen bis ins 21. Jahrhundert gehalten. So ziehen, nicht anders als vor vierhundert Jahren, Gläubige aus Bad Honnef und Aegidienberg am 13. Mai gemeinsam zur Servatiuskapelle. Alljährlich. Heilige sind flexibel und passen sich den Bedürfnissen der Gläubigen an. Der 13. Mai ist gleichzeitig sein Todesdatum, der Heilige Servatius ist einer der Eisheiligen. Was damals die Pest, sind heute Frostschäden, Hagelschlag, Rheumatismus oder Fieber. Heilige sind dehnbar geworden, damit sie den Zeitgeist nicht verpassen.  So vertreibt der Heilige Servatius Mäuse und Ratten, er ist Patron der Schlosser und Tischler, er hilft Fußkranken, er wirkt Depressionen entgegen.

Vor der Ausgangstüre der Servatius-Kapelle kann ich nachlesen, dass Servatius zum Allzweck-Heiligen geworden ist. Auch heute sehnen die Menschen die Wunderkräfte von Heiligen herbei. Die Besucher der Kapelle können ihre Gedanken in einem Buch niederschreiben.

Eine Frau K. aus Haan bei Düsseldorf hat ins Siebengebirge gefunden. Sie hat mehrere Kerzen angezündet, damit der Heilige Servatius Wünsche und Träume erfüllen möge. Servatius soll helfen, dass N. ihre Krankheit überwindet. J. und K. soll er auf ihren schweren Weg ins Berufsleben begleiten. M. soll er Konzentration, Wissen und Gelassenheit auf den Weg geben, damit er seine ADR-Schein-Prüfung besteht. K. selbst steckt schlimm in der Klemme, denn sie hat Schulden, sucht einen Arbeitsplatz, aber nicht irgendeinen, sondern einen, der ihr Freude bereitet. Was ich lese, stimmt mich seltsam optimistisch. Mit K. stimme ich überein, dass die Servatius-Kapelle ein einzigartiger Fleck ist. K. bedankt sich bei L., „dass sie sie zu diesem wundervollen Ort begleitet hat“.

Ruhe und Abgeschiedenheit haben mich voll gepumpt mit Eindrücken. Sie tragen mich nach vorne. Ich verlasse mit meinem Rennrad die Waldlichtung, münde auf der langgestreckten Kurve ein und strebe weiter auf die Höhen des Siebengebirges, nach Aegidienberg.