Donnerstag, 22. März 2012

Behörden

In den Gängen hatte sich der Mief der letzten zwanzig Jahre angesammelt. Ich befand mich im Bürgerbüro, das war vor etwas mehr wie einem Jahr. Das Viereck des Gangs zerfloß ins Ziellose, die weiß gestrichenen Wände ödeten mich an, einfallslos strich die graue Maserung über die Steinfliesen, die Atmosphäre war steril wie in einem Krankenhaus. Die Sitzbänke waren in einem einfachen Stil gehalten, hellbraunes, abgewetztes Holz, ausdruckslos, ich kam mir vor wie in einem Wartezimmer einer Zahnarztpraxis. Zwischen dem Knäuel von anderen Menschen, die ihr Anliegen in der Stadtverwaltung erledigen wollten, hatte ich einen freien Sitzplatz gefunden. Die rote Lichtanzeige über den drei besetzten Bürgerbüros signalisierten, dass gewartet werden musste. Auf dem Türschild las ich „An- und Abmeldungen, Pässe und Ausweise, Melderegister, Führungszeugnis, Beglaubigungen, Gewerberegisterauskünfte, Führerscheinangelegenheiten.“

Nach einer Wartezeit, die ich länger vermutet hatte, trat ich ein. Der Mitarbeiter, der mein Anliegen entgegennahm, passte nicht ganz in diese steife und erstarrte Bürolandschaft hinein: lässig schlängelte sich der Kragen seines Poloshirts um seinen Hals, seine schwarze Jeanshose saß tadellos. Über dem schmalen Streifen seiner Koteletten reichte sein struppiges Haar über seine Ohren. Ein braun umrandeter Bilderrahmen mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern verschönerte den Schreibtisch des Mittdreißigers.

Ein Gang zum Wandschrank, ein Griff in eine Heftmappe, den Antrag auf das begleitete Fahren unseres Sohnes war ich losgeworden, die Antragsunterlagen konnten an die zuständige Führerscheinstelle weiter gereicht werden.

Wenn ich mich an die Zeiten zurück erinnere, dass ich selbst in einer Behörde gearbeitet habe (es war nicht die Stadtverwaltung), ereilen mich Wahnvorstellungen. Das war bis ungefähr Ende der 80er Jahre.

Eine zeitlang war ich damals in der Hausverwaltung tätig. Wir durften kaum etwas selber machen, sondern bekamen alles vorgeschrieben. „DADASt“ hieß ein merkwürdiges Kürzel, im Langtext war dies die „Dienstanweisung für die Dienstausstattung“. Da bekam man bis ins kleinste Detail bis auf Marke und Typ vorgeschrieben, welche Schreibtische, Kleiderschränke, Wandschränke, Garderobenständer oder Papierkörbe in den Büros zu stehen hatten, aus welchem Material der Fußboden zu verlegen ist oder in welchem Jahresabstand Wände neu gestrichen werden dürfen oder wie der Anstrich genau auszusehen hat.

Das Malheur ging noch weiter: nicht nur wurde einem alles vorgeschrieben, sondern man bekam für das, was man rund um die Gebäude bezahlen musste, viel zu wenig Geld. Beispielsweise Energie. Über mehrere Jahre erlebte ich, dass wir für Strom, Gas, Heizöl, Wasser viel zu wenig Budget bekamen. Eigentlich hätten ab etwa September alle Lichter ausgehen müssen, weil wir keinen Strom mehr bezahlen konnten. Oder ab dem Herbst hätten wir frieren müssen, weil wir unsere Gasrechnungen nicht mehr bezahlen konnten. Nach mehrfachem Hickhack und Hin und Her bekamen wir dann  zusätzliche Geldmittel. Aber ohne Lerneffekte, denn im Folgejahr bekamen wir erneut zu wenig Geld, und jedes Jahr wiederholte sich dieses Spielchen, dass wir um Geld betteln mussten.

Das schlimmste war, dass die meisten es aufgegeben hatten, selbst zu denken, weil alles von oben vorgeschrieben wurde. Die Intelligenz beschränkte sich darauf zu wissen, was wo steht. Gab es einen solchen seltenen Fall, dass irgendwo etwas nicht geregelt war, musste jemand es nach oben reichen, damit jemand anders es regelt. Der Versuch, selbst zu denken, wäre ohnehin bestraft worden: wenn man es versuchte, kam es stets so, dass von oben anders entschieden wurde, eigene Denkansätze wanderten früher oder später in den Mülleimer.

Ämter und Amtsbezeichnungen erhielten in diesem Umfeld besondere Aufmerksamkeit. In Frühstücksrunden oder Gesprächen bewegten diese Themen alle: wie der Planstellenkegel aussieht, wie die Arbeitsplätze bewertet werden, wann wegen Zurruhesetzung welche Arbeitsplätze frei werden, welches davon Beförderungsdienstposten sind, wann mit Beförderungen zu rechnen ist. An jedem Türschild prangerten die Amtsbezeichnungen, und wenn man wusste, wie alt der Kollege war und welchen Familienstand er hatte, dann kannte aufgrund der Besoldungstabellen des öffentlichen Dienstes jeder sein Gehalt.

Es war schwer, sich diesem Trend zu entziehen, einzurosten oder dass das eigene Denken in bestimmte Bahnen gelenkt wurde. Der Kreativität beraubt, gab es sogar Kollegen, die zum  Alkoholiker geworden waren.

In unserem Freundeskreis haben wir auch Bekannte, die in einer Behörde arbeiten. Wahrscheinlich sind sie dazu übergangen, im Dienst das Denken den Pferden zu überlassen und sich nach Feierabend selbst zu verwirklichen. Möglicherweise haben auch die Ermessensspielräume im Zeitverlauf zugenommen, so dass eigenes Denken mehr gefragt ist. Zurück gesprungen zu unserer Stadtverwaltung, stelle ich mir es trotzdem schwierig vor, Bereiche wie Personalausweise oder Meldewesen mit spannenden Aufgaben anzureichern. Diese behördentypischen Bereiche sind wohl immer noch so, wie ich es anderswo bis Anfang der 90er Jahre kennengelernt habe: ablegen, reinschieben, weg damit, Routinekram. Staatliche Aufgaben, ohne sich damit identifizieren zu können.

Aus eigener Erfahrung habe ich einen Lichtblick erlebt: das Finanzamt. Die haben bei uns auch ein solches Bürgerbüro, und die Kollegen vom Finanzamt sind fit und helfen, wo sie können. Anders wie bei Personalausweisen, ist das Steuerrecht viel dynamischer und auch breiter gefächert. Das alleinige Wissen, was wo steht, reicht nicht aus. Und ständig überholt sich dieses Wissen. Die Rechtsprechung kommt kaum nach, sämtliche Einzelfälle mit detaillierten Regeln zu hinterlegen.

Mit seinen Denkmustern kommt mir das Finanzamt schon geradezu modern vor.

Mittwoch, 21. März 2012

altes Tagebuch

Der Umschlag ist bereits in zwei Teile zerfallen und hat dennoch seine Schönheit bewahrt. Angekratzt an den Ecken, heben sich Birnen, Erdbeeren und rote Weintrauben auf dem Umschlag von dem hellen Hintergrund ab. Vom Zahn der Zeit angefressen, hat das Tagebuch in unserer Schrankkommode geschlummert.

Ich nehme das Tagebuch. Momente der Rührung überfallen mich, in den alten Seiten herumzublättern. Seite für Seite spüre ich zwischen meinen Fingern, das federweiche Papier kommt mir zerbrechlich vor wie Kristallglas.

Ich lande im Jahr 1994. Wie ein Film läuft die damalige Zeit vor meinen Augen ab. Unzufrieden war ich in meinem Job. Meine Aufgaben waren weg rationalisiert worden. Körperlich saßen wir noch an unseren Arbeitsplätzen, und niemand konnte uns sagen, ob wir von der Bildfläche verschwinden sollten oder ob wir neue Aufgaben bekämen.

Es ist nicht nur Erinnerung oder Emotion, sondern auch meine Handschrift, die mich im Tagebuch verblüfft. Seit fast zehn Jahren bin ich dazu übergangen, mein Tagebuch, welches ich ständig verfeinert habe, am PC zu schreiben. In der letzten Zeit ist die Form des Tagebuches zunehmend in Blogs übergegangen, wobei Internet und PC für mich dasselbe ist.

Handschrift zu PC: ich stelle fest, dass sich Welten gegenüber stehen, die ungefähr so weit auseinander liegen wie die Erde vom Mond oder wie Mozart zu Deep Purple. Die Handschrift, dies ist Ausdruck der eigenen Persönlichkeit: das ist Eleganz, Geschmeidigkeit, Schwung, Stil, Maß, Proportion in jedem Wort.

Jedes Wort mit der Hand zu schreiben, wäre mir heute viel zu aufwändig. Beinahe, möchte ich behaupten, habe ich es verlernt: ich würde nur noch kraxeln, unleserlich, schnell die Buchstaben dahin schmieren, weil ich keine Geduld mehr habe und weil ich das Endergebnis sehen möchte: den fertigen Text.

Freilich: ein Stück weit habe ich beim Bloggen beibehalten, mit der Hand zu schreiben. Im Kopf schwebt mir eine Idee vor. Aus der Idee muss ein Thema extrahiert werden. Um einen Blog zu schreiben, müssen Querbeziehungen dargestellt werden, Details müssen herausgearbeitet werden, all die Bilder, die im Kopf herum schwirren, müssen geordnet, sortiert, neben einander gestellt werden. So etwas klappt nicht am PC in Word oder Excel. Dieses ungeordnete Gebilde muss ich mit der Hand auf einen Zettel aufmalen. Details muss ich hinein zeichnen. Wie bei einem Baum muss sich eine Struktur herausschälen: die Grobstruktur – das ist der Stamm – und die Feinstruktur – das sind die Äste. So ein Konzept erstellen, das kann ich nur über meine Handschrift.

Struktur, Abschnitte, Tage, handgeschrieben sieht die Form des Tagebuches aus dem Jahr 1994 vollendeter aus wie in meinen heutigen Blogs. Die Gefühle, ob ich traurig oder fröhlich war, ob ich gut oder schlecht drauf war, spiegeln sich nicht nur im Text, sondern auch in der Handschrift. Alte Tagebücher sind Ausdruck der Tagesstimmung, der Leidenschaft, in jedem Wort. Alte Tagebücher sind Kostbarkeiten.