Freitag, 16. Dezember 2011

Schnellbus 55


„Ist das der Schnellbus ?“ fragt die Mittvierzigerin mit dem Regenschirm in der Hand.
„Nein“ antwortet der Busfahrer.
Eigentlich ist diese Frage überflüssig, denn die übergroße Leuchtschrift zeigt auf der Frontseite unwiderruflich die Buslinie 550 an.
„Wann kommt der Schnellbus ?“
Der Busfahrer zuckt mit den Achseln.


Eine typische Szene ? Eher nicht, denn die Verspätungen des Schnellbusses halten sich derzeit in Grenzen. Vor einem Jahr herrschten aber zu bestimmten Abfahrtszeiten italienische Verhältnisse, denn dann kam der Schnellbus nach Lust und Laune oder er fiel ganz aus.

November bis Januar, in dieser dunklen Jahreszeit macht es mir keinen Spaß mehr, im Stockfinsteren mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren und wieder nach Hause zurück. Auf unbeleuchteten Passagen ist das Fahrradfahren bisweilen auch gefährlich, wenn Spaziergänger, Hunde oder Jogger aus dem Nichts auftauchen, so dass ich ihnen nur um Haaresbreite entweichen kann.

Im Schnellbus muss sich mein Körper und meine mentale Verfassung auf einen komplett anderen Rhythmus umstellen. Die Taktung von Bewegung, Sinne und Wahrnehmung wird durch die Abfolge von Bushaltestellen bestimmt, egal, ob der Bus steht oder fährt. Vieles geht gemächlicher ab. Erst warten, bis der Bus am Busbahnhof einfährt. Ist dieser nun eingefahren und zum Stillstand gekommen, mutieren manche Busfahrer zum Genießertypen. Sie schwelgen in einer bierseligen Ruhe, steigen aus, verschließen sämtliche Bustüren, verschwinden im Schneckentempo und lassen die Fahrgäste stehen und fleißig schmoren. Eine Zigarettenlänge später kehren sie dann mit einem Pappbecher Kaffee zurück, damit man schlussendlich einsteigen kann.

Ein Glück, dass ich am Busbahnhof, der ersten Haltestelle, einsteige, denn dort habe ich noch die freie Wahl des Sitzplatzes. Gerne verkrümele ich mich auf den hinteren Sitzbänken, um ein Buch oder eine Zeitung auspacken. Dies ist durchaus eine der Vorzüge des Busfahrens: die Zeit zum Lesen. 

Sitzen, vor mich hergucken, in Buch oder Zeitung herumschmökern. Der Rhtyhmus des Busfahrens ist mehr an Zufälle gekoppelt als an eine regelmäßige, fortschreitende Bewegung. Im Stadtgebiet stolpert der Bus eher nach vorne: immer wieder bremsen, Ampel stehen auf Rot, Vorwärtsbewegung, dies abschnittsweise, denn Beschleunigungsmanöver werden ständig unterbrochen durch rote Bremslichter im voraus fahrenden Verkehr. An den Haltestellen, nachdem die Fahrgäste eingestiegen sind, verzögert sich die Abfahrt schon mal ins Unermessliche, wenn der Fahrscheinverkauf zu einer riesengroßen Aktion ausartet.

Neben Verspätungen ist das schlimmste, wenn die Heizungen nicht funktionieren. Bei einer regnerischen und muddeligen und milden Witterung wie heute lässt sich dies ertragen, doch wenn draußen die Temperaturen mit etlichen Minusgraden in den Keller stürzen, wird dies zu einem echten Problem. Bibbern und Zittern ist da angesagt, und mit Schal, dicker Jacke, Fausthandschuhen und Ohrwärmern muss ich mich gegen die sibirische Kälte so einpacken, als ob ich mit dem Fahrrad unterwegs wäre. Die ganzen Fensterscheiben sind dann eingehüllt in eine Dekoration von Eisblumen. Das macht überhaupt keinen Spaß und ich komme mir von der Außenwelt isoliert vor wie in einem Gefängnis.

Wenn der Bus das Stadtgebiet verlassen hat, beeilt er sich ordentlich und wird (hurra !!!) zu einem Schnellbus – mit dem Komfort einer eigenen Busspur. Konzentration und Lesen fallen mir leichter, wenn sich die Fahrgäste nicht hektisch hin- und herbewegen und mit dem Blick auf das Display ihres Smartphones in sich ruhen. Die Dunkelheit draußen hat dann nichts lähmendes mehr, wenn die Lichter der Straßenlaternen als Punkte vorbei fliegen. Die Busfahrt gewinnt an Fluss und Kontinuität. Ich komme zum Lesen: „Die Hirnkönigin“ von Thea Dorn, und Seite für Seite blättere ich vorwärts.

An der großen Kreuzung kommt vor der roten Ampel die Blechlawine zum Stillstand. Wenn die Ampel auf Grün umspringt, wird die sich die Busfahrt fortsetzen. Ich freue mich auf zu Hause.

Freitag, 9. Dezember 2011

Eile mit Weile


Die Arbeit war vorbei. Ich verließ das Büro, und die Straßenbahn war gerade abgefahren. 10 Minuten warten auf die nächste Straßenbahn.

Schnell wurde ich ungeduldig, mein Zeitplan geriet durcheinander. In einen Stoffladen wollte ich für meine Frau ein Gummiband besorgen, danit sie die Ärmel eines Vlies-Shirts vernähen konnte. Ich zog es vor, meine Beine in Bewegung zu setzen, zur nächsten Straßenbahnhaltestelle. Untätig zu warten, auf den nicht abreißenden Autoverkehr zu starren oder auf das langweilig gekrümmte Glasdach der Haltestelle, dazu war ich zu hibbelig. Ich musste etwas machen.

An der nächsten Haltestelle Olof-Palme-Allee nur noch 2 Minuten warten. Das war erträglicher. Einsteigen, zwei Haltestellen weiter, Heussallee, und dort kam ich mir vor wie bei einer Völkerwanderung, denn die Fahrgäste drangen in Scharen ein. Um mich herum quetschte sich alles zusammen, und inmitten von unkontrollierten Bewegungen wurde auf Handys und Smartphones herumgeklimpert, was das Zeug hielt. Ich erkannte Profile auf Facebook oder textliche Bruchstücke, die sich zu einer SMS zusammenfügten. Ich war aufgekratzt und gereizt.

Universität/Markt aussteigen. An einem Knubbel von Menschen musste ich mich vorbei quetschen, um aussteigen zu können. In der unterirdischen Röhre des U-Bahnsteigs kam ich mir eingesperrt vor, und ich zwängte mich an diesem Wirrwarr von Menschen vorbei. Ziellos kam ich mir vor. Würde ich in dem Stoffladen das richtige Stoffband finden ? Wann würde der nächste Bus kommen ?

Über die Rolltreppe, hinaus ins Freie. Ich passierte den Durchgang unter das Universitätsgebäude. Verkehrsstau vor der Tiefgarageneinfahrt unter dem Marktplatz. Auf dem Marktplatz lichtete sich das Menschengewimmel und ich schritt vorbei an den Marktständen.

Im Stoffladen zeigte ich das Stück weiße Gummiband, 4 Zentimeter breit, welches mir meine Frau als Muster mitgegeben hatte. Dieses gab es nur als Rolle, nicht in Stücken, so dass ich zu Hause anrufen musste.

„Wie viel brauchen wir ?“
„10 Meter“
“Danke. Tschüss. Ich bin gleich zu Hause“.

Als ich bezahlt hatte, sah ich draußen die Buslinie 550 heranfahren, so dass ich rennen musste. Glücklicherweise bekam ich aber einen Sitzplatz.

Zu Hause angekommen, stellte ich fest, dass ich das Muster in dem Stoffladen liegen gelassen hatte. Ich dachte an das Sprichwort „Eile mit Weile“. Zu nervös war ich gewesen, um an alles zu denken.

Donnerstag, 1. Dezember 2011

Theater van het sentiment 17.11.1973


Abends auf dem Sessel die Beine hochlegen. Kein Fernsehen, sondern Radio hören. Zum Glück gibt es Internet-Radios, mit denen man Sender aus der ganzen Welt hören kann. Hängen geblieben war ich in den Niederlanden – Radio 2. Die Sendung hieß „Theater van het sentiment“, sie dauerte 3 Stunden und befasste sich mit einem bestimmten Datum – an diesem Datum gab es eine Zeitreise x Jahre zurück in die Vergangenheit. Am 17. November führte die Zeitreise in das Jahr 1973, also 17.11.1973.

Ende 1973, da war ich 14 Jahre alt, ich ging in das Gymnasium in Erkelenz in die 9. Klasse. Diese nannte sich damals Untersekunda, Freunde hatte ich kaum. Mit Höhen und Tiefen bewegte ich mich durch die Unterrichtsfächer, meistens im 2er- oder 3er-Notenbereich.

Die Sendung begann mit den Stücken: „Flashback“ von Paul Anka und „Sorrow“ von David Bowie. Ende 1973 hatte ich mir in meinem Kinderzimmer meine eigene Welt aufgebaut, die hermetisch abgeschlossen war und zu einem großen Teil aus Musik-Hören bestand. Ich hörte WDR2 oder BFBS, doch die Musik auf Hilversum3 – ich wuchs 4 Kilometer von der niederländischen Grenze entfernt auf – war einiges besser, rockiger, leidenschaftlicher, temperamentvoller. Endlos ließ ich mich berieseln, ich schrieb die englischsprachigen Texte mit, ich entwickelte mich zu einem Hitparaden-Sammler. Mit meinen Phantasien und Gedanken tauchte ich in diese Welt ab.

Es liefen “Goodbye Yellow Brick Road” von Elten John und “Mind Games“ von John Lennon, Who’s that Lady von den Isley Bothers und Harmony von Ray Connor. Der Moderator Cobus Bosscha leitete zum Motto dieses Abends über: die insgesamt 7 autofreien Sonntage in den Niederlanden. 1973, nach der anti-arabischen Haltung der Europäer im Jom-Kippur-Krieg, den Israel gegen Ägypten gewann, wurden die europäischen Staaten mit einem Öl-Embargo abgestraft, so dass Benzinknappheit herrschte.  In Deutschland waren es 4 autofreie Sonntage, in den Niederlanden waren es 7. Zuhörer konnten sich melden und ihre Geschichten erzählen, die sie an den 7 autofreien Sonntagen erlebt hatten. Solche Remember-Sendungen gibt es heutzutage auch auf deutschen Radiosendern – aber bei weitem nicht so dicht, zentriert auf ein Motto und mit eigenen Hörererlebnissen wie in „Theater van het sentiment“.

Nach den Stücken „Whos’s that Lady“ von den Isley Brothers und „Harmony“ von Ray Connor meldeten sich die ersten Hörer und erzählten ihre Geschichten: Die Leere der Straßen hatten sie durchweg positiv in Erinnerung. Man fuhr auf Rollschuhen, auch die Fahrradfahrer konnten sich mit aller Begeisterung auf den Straßen austoben. Größere Gruppen von Reitern auf Pferden nutzten die leeren Straßen. In Gelderland hatte man Rundwanderungen ausgeschildert. Ausgangspunkte der Wanderungen waren Ausflugslokale oder Pfannkuchen-Restaurants, die mit Sonderangeboten lockten. Nach der Wanderung kehrte man in eines der Cafés oder Restaurants ein, und dort war es rappelvoll und gemütlich.

Ob mit oder ohne Auto, auf die Gestaltung der Sonntage hatte dies bei uns zu Hause keinen Einfluss. Ende 1973, das war noch die Phase, in der mein Bruder und ich jeden Sonntag Nachmittag mit unseren Eltern spazieren gehen mussten. Diese Spaziergänge habe ich in unendlich verbohrter und langweiliger Erinnerung. Das war meistens immer dieselbe Runde durch den Wald hinter unserem Dorf. Die einzige Abwechslung beim Spazierengehen war, dass wir nicht die Runde durch den Wald, sondern durch die Felder drehten. Wenn wir einmal ganz ausnahmsweise mit dem Auto wegfuhren, dann wiederum, um spazieren zu gehen. (Anmerkung: meine Eltern muss ich entschuldigen, denn in der Ferienzeit haben wir auch einiges unternommen). Diese exzessiven Spaziergänge sollten aber 1974 ein Ende finden,  denn dann begann ich Fußball zu spielen und die Sonntage wurden fortan über den Fußball festgelegt.

Die Stücke „Angie“ von den Rolling Stones und „Just you and me“ von Chicago leiteten zum damaligen politischen Tagesgeschehen über. In Griechenland herrschte eine Militärdiktatur, und im November 1973 gab es, ausgehend von der Universität in Athen, Studentenunruhen gegen die Militärdiktatur. Diese wurde mit Panzern niedergeknüppelt, wobei es 23 Tote gab. Der damalige niederländische Auslandskorrespondent in Greichenland beschrieb, was er damals erlebt hatte. Nach diesen Unruhen wurde 1974 die griechische Militärdiktatur gestürzt. Fast zeitgleich stürzten 1974 bzw. 1975 die Militärdiktaturen in Portugal und Spanien. Aus heutiger Sicht kaum vorstellbar, dass in Südeuropa bis vor 36 Jahren Diktaturen fest etabliert waren.

Ich öffnete einen Valpolicella, goß in das dickbauchige Weinglas ein, der Rotwein zerlief zwischen meiner Zunge. Ich hörte „The Joker“ von und „Down by the Lazy River“ von den Osmonds. Auf dem Gymnasium hatte ich Ende 1973 einen Durchhänger. In den zentralen Fächern Englisch und Mathematik kam ich schlecht mit den Lehrern klar, schlimm war auch mein Klassenlehrer in Deutsch und Sport. Er war ein Giftzwerg, klein, schmal, mit einem Seemannsbart wie Captain Ahab. Bevor er Lehrer war, war er Zeitsoldat bei der Bundeswehr gewesen. Dies prägte seinen Stil, denn es wurde wenig diskutiert, sondern angeordnet. Was wir im Unterricht lasen, damit wusste ich überhaupt nichts anzufangen – wie etwa „Der Jasager und der Neinsager“ von Bertolt Brecht, „Wilhelm Tell“ von Friedrich Schiller oder „Die Ratten“ von Gerhart Hauptmann. Bei dem letzten Stück ordnete er an, dass wir alle ins Theater gehen mussten. „Die Ratten“ wurde gerade im Mönchengladbacher Theater aufgeführt. Er dämpfte über mehrere Jahre hinweg mein Interesse an deutscher Literatur. Erst in den 80er Jahren fand ich wieder Zugang zur deutschen Literatur. Aber noch heute liegen mir z.B. französische Autoren wie Camus oder Balzac näher wie Goethe oder Schiller.

Die nächsten Stücke waren „Photograpes and Memories“ von Jim Croce, „Wovoka“ von Redbone, „Wonderful“ von Colin Blunstone. Diese Stücke wurden weder damals bzw. werden weder heute in einem deutschen Radio-Sender gespielt. Was in niederländischen Radiostationen gespielt wurde, wurde zu Beginn der 70er Jahre von Piratensendern wie Radio Veronica, Radio Noordzee oder Mi Amigo beeinflusst – vor allem mit den rhythmusbetonten und aggressiveren Elementen britischer Rockmusik. Dazu kam eine vielfältige Musikszene in den Niederlanden mit Gruppen wie Shocking Blue, Golden Earring oder Jan Akkerman, die sich im Vergleich zu damaligen Deutsch-Rock-Gruppen viel stärker etablieren konnten. Die Musikprogramme auf niederländischen Sendern sind damals und heute vielfältiger, tendenziell rockiger und weniger vom Mainstream der Hitparaden bestimmt. Daher ist die Schnittmenge, welche Musik auf den deutschen Sendern wie WDR, SWR und HR zu hören ist, eher klein.

Nach den Stücken „I’m the one“ von den Who und „The Day that Curly Billy shot down Crazy Sam McGhee“ von den Hollies hörte ich zu, was weitere Hörer an den autofreien Sonntagen Ende 1973 erlebt hatten. Ein Blinder berichtete, dass die Welt einen vollständig anderen Klang annahm. Die stillen Momente nahmen zu, und Störgeräusche wie den Autoverkehr brauchte er nicht mehr herauszufiltern. Was er wahrnahm, wurde reiner, seine Sinnesorgane fanden sich besser zurecht. Irgendwo mitten in den Niederlanden fand an einem Samstag eine Beerdigung statt. Die Verwandtschaft verteilte sich aber in alle Ecken der Niederlanden. Viele versäumten es oder schafften es nicht, die Sondergenehmigungen einzuholen. Manche nahmen ein Taxi, manche die Eisenbahn, und manche kamen sogar erst an, als die Beerdigung bereits vorbei war. In einer Familie entspannten sich die Wochenenden. Etwa 100 km entfernt wohnten die Schwiegereltern, die in einem festgelegten Zeitrhythmus besucht werden mussten. Streitsituationen und Spannungen fielen weg, die Familie konnte unbeschwerter die Wochenenden genießen.

Es folgten „Lyrics“ von Kajak, „Helen Wheels“ von den Wings und „Dark Side of the Moon“ von Pink Floyd, danach weiteres Tagesgeschehen vom November 1973. Kaffee aus Angola wurde boykottiert, um über die Röstereien und Konzerne faire Preise für das Entwicklungsland zu erzielen. In Amsterdam wurden große neue Museen eröffnet – das nationale Schifffahrtsmuseum und das van Gogh-Museum. Im Fußball gab es das entscheidende Qualifikationsspiel Niederlande gegen Belgien. 0:0 endete das Spiel, und die Niederlande konnten dank des besseren Torverhältnisses an der Fußball-WM in Deutschland 1974 teilnehmen.

Dann eine überraschendes Variante der Musik: Boudewijn de Groot mit „Parijs, Berlijn, Madrid“. Er sang auf niederländisch, spielte als Liedermacher lediglich auf der akustischen Gitarre. Er sang, dass er in Madrid noch ein paar Schuhe stehen hatte, in Paris ein Korb voll Wäsche mit seinem Lieblingshemd drin und in Berlin einen Koffer. Also musste er zu diesen Hauptstädten reisen, um seine Dinge zusammen zu sammeln. Mit dem Zug fuhr er zu seinem Ziel in Madrid, und davor sammelte er seine persönlichen Dinge in Berlin und Paris ein. 

Ik heb nog twee schoenen in Madrid
Waarvan een paar dat me prima zit
En soms denk ik, ik neem de trein
Om weer eens in Madrid te zijn ...

Auf Niederländisch, lief mir dieses Stück den Rücken herunter. Wort für Wort ließ ich auf mich wirken. Das Wechselspiel zwischen harten und weichen Lauten im Niederländischen wirkte intensiv. Das Stimmungsbild war sehr dicht, wie seine persönlichen Sachen von Hauptstadt zu Hauptstadt reisen.

Ich trank einen tiefen und langen Schluck Rotwein, währenddessen klang die Radiosendung aus mit den Stücken „Love my Music“ von Loggins & Messina, „D’yer Maker“ von Led Zeppelin und „Rambling Man“ von den Allman Brothers. Der Moderator Cobus Bosscha hatte mich mitgerissen, auch er hatte seiner Begeisterung vollen Lauf gelassen, in dem er einzelne Musikpassagen aus voller Brust mitgesungen hatte. Die Sendung mit dem Tag 17.11.1973 habe ich mir in Ruhe auf der Zunge zergehen lassen und in meinen Erinnerungen herumgeschwelgt.

Für diejenigen Blog-Leser, die die Ausdauer gehabt haben, dieses lange Machwerk von Text durchzulesen: Sie können hineinhören in das auch in Deutschland bekannte Stück aus November 1973: Sebastian von Cockney Rebel:


Donnerstag, 10. November 2011

Reifenwechsel

Ihr Arbeitsplatz war wie ein kleiner Kasten, dort, wo die Aufträge der Reifenwerkstatt angenommen wurden. Während die Kunden es sich im Vorraum an einem Tisch mit Stühlen und Zeitungen bequem machen konnten, quetschte sich ihr Arbeitsplatz zwischen eine brusthohe Empfangstheke und der dahinterliegenden Wand.

Vor dem Beginn der winterlichen Jahreszeit hatte ich mich entschieden, die beiden abgefahrenen Vorderreifen unseres metallic-farbenen VW Vento durch zwei neue zu ersetzen. Das Reifenprofil der beiden Hinterreifen war noch ausreichend tief, so dass dies günstiger war als vier neue Winterreifen.

Ich musste warten. Die Büroangestellte, eine Frau mit Lockenkopf im mittleren Alter, die sich ihren Stress nicht anmerken ließ, führte ein schier endloses Telefonat. Ich konnte Gesprächsfetzen heraushören: „Mindestens zwei Tage Lieferfrist …. wir können nur das Notrad montieren … jetzt ist eine Stoßzeit, in der alle ihre Winterreifen montieren lassen wollen … wir tun aber unser allerbestes, um unsere Kunden zufriedenzustellen … „. Als das Gespräch beendet war, musste ich die beiden vor mir wartenden Kunden abwarten. Beim nächsten Kunden blätterte sie schier endlos in ihrem DIA A 4-Notizblock herum, denn die Einträge, Vorbestellungen und Aufträge füllten Dutzende von Seiten. Ein PC mit Flachbildschirm stand zwar seitwärts von ihr, aber offensichtlich fand sie sich besser ihrer der Zettelwirtschaft zurecht. Der nächste Kunde merkte an: „Zwei Tage sind gut, in einer anderen Werkstatt hätte ich 14 Tage warten müssen“. Auch beim nächsten Kunden tat sie ihr bestes.

„Aha, Typ Goodyear 4 Seasons 164,“ bestätigte sie, als ich ihr meinen kleinen Notizzettel hingehalten hatte, auf dem Reifentyp und Preis in blauer Kugelschreiberschrift notiert waren. „Die Ganzjahresreifen sind da“. Gleichzeitig trat der Chef herein. Ich hatte ihn schon zuvor bewundert, wie er trotz seines massigen Körpers und seiner breiten Gestalt wie ein Wirbelwind durch die Werkstatt flitzte. Zielgerichtet schritt auf mich zu, den Notizzettel nahm er mir aus der Hand. Einsilbig deutete er mir zu: „Kommen Sie“. Wie mit dem Lineal gezogen, durchkreuzte er die Werkstatt von einem Ende zum anderen und meinte: „Nach dem Transporter“. Dabei hatte er seinen Kopf in einer knappen Bewegung zu mir zurück gedreht, wandte sich dann wieder ab und verschwand unverdrossen durch eine Türe im hinteren Teil der Werkstatt, der durch eine Wand abgetrennt war.

So stand ich da und wartete wieder. Transporter ? Tatsächlich, auf dem Parkplatz draußen entdeckte ich einen weißen 3,5-Tonner von Citroen, über dessen Seitenteile sich die blauen Schriftzüge einer Sanitärfirma erstreckten. Drinnen war auf der einen Hebebühne gerade war ein Mondeo aufgebockt. Der Kofferraum stand offen und vier Reifen in weißen Plastiktüten schauten heraus. Auf der anderen Rampe wartete ein Fiat Punto darauf, in die Höhe gewievt zu werden.

„Geben Sie mir Ihren Schlüssel ?“ tauchte unvermittelt ein hoch aufgeschossener Monteur mit kahlgeschorenem Kopf vor mir auf, nachdem der Mondeo seine vier neuen Winterreifen bekommen hatte. Ich war etwas verwundert, wieso ich meinen Autoschlüssel hergeben musste. Doch als er unseren VW Vento auf die Hebebühne bugsierte, wurde mir klar: das Manöver erforderte eine Menge Geschick und Präzision, denn die Fläche zum Drauffahren war schmal und stieg fast im Winkel von 45 Grad an. So war nun endlich unser Auto mit dem Reifenwechsel an der Reihe.

Eine zeitlang tat sich nichts, bis zwei Monteure fast so schnell wie sie gekommen waren, wieder mit den abmontierten Vorderrädern durch die Türe im hinteren Teil der Werkstatt verschwanden.

Ich erwartete, dass die Vorderreifen montiert würden, doch anstatt dessen schritt der Monteur mit dem kahlgeschorenen Kopf aus dem hinteren Teil der Werkstatt geradewegs auf mich zu und signalisierte:
 „Ihr Reifenprofil an den hinteren Reifen ist unregelmäßig. Haben Sie beim Fahren davon etwas bemerkt ?“ Ich war irritiert, beim Autofahren war mir nichts aufgefallen. „Sollten die Reifen hinten auch noch gewechselt werden ?“ fasste ich nach und dachte an eventuelle zusätzliche Kosten. „Nein, nur dann, wenn man es beim Fahren bemerkt. Sie haben ein sogenanntes Sägezahnprofil, weil die Reifen nicht einmal jährlich von vorne nach hinten und umgekehrt gewechselt worden sind.“ Das war typisch für mich, nämlich  meine Schludrigkeit, Schlamperei oder Vergesslichkeit, wenn ich an etwas denken muss und wenn etwas mit zusätzlichen Kosten verbunden ist. Normalerweise stand ich zu meiner Art, dass nicht alles haargenau und korrekt sein musste. Doch diesmal ärgerte ich mich. „Es gibt Autos, da kann dieses Sägezahnprofil ein Rubbeln oder Vibrieren erzeugen, wobei der das Wort „kann“ betonte. Man glaubt, auf den Reifen eines Traktors fahren …“ setzte er hinzu. Nein, so etwas war definitiv nicht der Fall, und ich beruhigte mich.

Wie aus dem Nichts erschienen aus dem hinteren Teil der Werkstatt wieder die Arbeiter, beladen mit zwei auf Felgen montierten und aufgepumpten Vorderreifen. Ein paar routinierte Handgriffe, herumpustend und mit metallischen Preßschlägen verrichtete der Schlagschrauber seine Arbeit. Abschließend fuhr der Monteur unseren VW Vento nach draußen und ich bekam den Schlüssel zurück.

Auf der Rückfahrt nach Hause war die Fahrt wieder ganz normal. Ruhig glitt das Auto mit seinen neuen Vorderreifen durch die Landschaft dahin. Das Sägezahnprofil war zahm, und ich dachte auch an die verausgabten 170 €, was nun ein weiteres Loch in unsere leere Haushaltskasse reißen würde.

Samstag, 12. Februar 2011

FC

Samstag Abend 20.30 Uhr. Fußgängerzone Königswinter. Ich war ½ Stunde zu früh, um V abzuholen. Treffpunkt war die Apotheke. Ich stand vor diesem schönen Gebäude, das wahrscheinlich aus der Epoche des Bürgertums stammte. Aus dem nach vorn geneigten Dach ragten drei Dachgauben stolz und mächtig hinauf.

Lärm drang herüber, Karnevalsmusik.

Hatten sich eine Handvoll Jecken nach Königswinter verirrt ? Nicht ganz 2 Monate war es noch bis Karneval. Das passte gar nicht in diese abendliche Stille hinein. Verschlossene Ladenlokale, heruntergelassene Sicherheitsgitter und unbeleuchtete Schaufenster dösten wir sich hin. Die Fußgängerzone war ein einsames, verschlafenes Nest. Kaum eine Menschenseele war zu sehen. Die Straßenlaternen spendeten ein mattes Licht. Das Grau des Verbundpflasters kam mir ungeheuer langweilig vor. Trostlos auch die mit Pflastersteinen verlegten Rinnen, die das Verbundpflaster in der Mitte der Fußgängerzone seitwärts begrenzten.

Am Ende der Fußgängerzone wehte die rot-weiße Fahne des Fan-Clubs des 1. FC Köln.

Sie hing über dem Bistro Europa, dessen Türe offenstand. Drinnen war es hell. Genau dort kam die Karnevalsmusik her. Auf den Barhockern an der Theke wurde Kölsch getrunken. An den Stehtischen wurde lebhaft diskutiert und gestikuliert. Im Lokal setzte sich die rot-weiße Farbenpracht fort: rot-weiß waren die Schals, die von den Schultern herunterbaumelten, und rot-weiß waren die Baumwollmützen, lässig auf den Köpfen sitzend. Lautstark ging es her, und auf den überdimensionalen Flachbildschirm, auf dem in kurzer Abfolge Interviews liefen, schaute kaum jemand.

Die Höhner sangen: Mir stonn zo dir, FC Kölle ….

Ja, ich hatte mich ertappt, dass ich mit dem FC litt. Der FC hatte gegen Werder Bremen gespielt. Das Ergebnis kannte ich noch nicht. Unschlüssig, ob ich das Ergebnis wissen wollte oder nicht, schritt ich weiter vorwärts. Das Straßenbild wurde nun abwechslungsreicher: auf einer alten und ehrwürdigen Fassade Stuckarbeiten mit Blattwerk und Reben; viereckige Säulen um die Eingangstüre des Hofs von Holland; das alte Kelterhaus mit seinen beiden mächtigen, sattgrün gestrichenen Eingangstüren; neben der Remigiuskirche ein weit ausholender Fachwerkbau, dessen schwarze Balken ein rechtwinkliges Muster bildeten.

Hatte der FC etwa gewonnen ? Oder zumindest nicht verloren ?

Ich ging zurück zum Bistro Europa. Sahen so die Gesichter von Fußballfans aus, deren Mannschaft verloren hatte ? In den Gesichtern war keinerlei Zerknirschtheit, Depression oder Wut erkennbar. Sie tranken ihr nächstes Kölsch, prosteten sich gegenseitig zu. Die Farben rot-weiß -  auf Schals oder Mützen -  dominierten weiterhin. Nun lief richtig Kölsche Karnevalsmusik, auf die mit feuchte Kehlen mitgesungen wurde. Nein, bei einer Niederlage gegen Werder Bremen hätte diese Szenerie anders ausgesehen.

Ich musste zum Treffpunkt der Apotheke zurück. An den Schaufenstern vorbei, schritt ich über das phantasielose Muster der Gehwegplatten. Die quadratischen Platten wiederholten sich endlos – wahrscheinlich bis zum Ende der Fußgängerzone. In der Dunkelheit eines leerstehenden Ladenlokals wartete ein Bündel Glaswolle auf seine Verarbeitung. Zwischen die Schaufenster mischten sich Plakate, die das Interesse wecken sollten für eine Panaroma-Dia-Show über Neuseeland oder für einen Jeckentreff 2011 oder für eine Multimedia-Reportage am Ende der Welt in Patagonien. In der Fußgängerzone begegneten mir nur einzelne Passanten, die genauso schnell verschwanden wie sie kamen.

Punkt 21.00 Uhr kam mit V an der Apotheke entgegen. Als ich kurz darauf das Auto startete, liefen in WDR2 noch die 21.00 Uhr-Nachrichten. 3:0 hatte der FC gegen Werder Bremen gewonnen. Wahrscheinlich feierten die FC-Fans im Bistro Europa noch bis mitten in die Nacht hinein.

Sonntag, 30. Januar 2011

Simenon

Habe Simenon „Der Bürgermeister von Furnes“ gelesen. Der Bürgermeister Joris Terlinck ist ein ekelhafter Typ: er hat seine Haushälterin geschwängert, sein Sohn ist Anfang 20 und ist in der Armee, die Haushälterin und seine Ehefrau wohnen in demselben Haus. Außerdem hat er mit seiner Ehefrau eine geistig behinderte Tochter, die in einem abgeschlossenen und abgedunkelten Raum vor sich her vegetiert (ab und zu bekommt sie zu essen , ab und zu wird sauber gemacht, es kümmert sich niemand darum, wie sie ihre Notdurft verrichtet). Terlinck ist gleichzeitig Inhaber einer Zigarren-Fabrik. Eines Abends klingelt einer seiner Beschäftigten (Jef Claes) bei ihm zu Hause und bittet um einen Vorschuss auf seinen nächsten Lohn, weil seine 18 jährige Freundin schwanger ist und er sich mit ihr eine Wohnung einrichten möchte. Terlinck lehnt eiskalt ab, worauf Jef Claes ihn mehrmals anfleht und ihm androht, sich umzubringen. Terlinck bleibt hart, und am nächsten Tag bringt Jef Claes sich um. Dieser Selbstmord berührt ihn überhaupt nicht, und machtbesessen übt er seinen Posten als Bürgermeister von Furnes aus (liegt in Flandern und heißt dort „Veurne“). Hierbei ist sein schärfster Konkurrent der Vater der Freundin von Jef Claes (Van Hamme). Nach Bekanntwerden der Schwangerschaft setzt Van Hamme seine Tochter vor die Türe und besorgt ihr eine Wohnung in Ostende. Irrational und nicht erklärbar fährt Terlinck danach immer wieder zu der 18 jährigen nach Ostende und überhäuft sie mit Geschenken, obschon es niemals eine Aussicht auf irgendeine Beziehung gegeben hätte. Gleichzeitig verschlechtert sich der Gesundheitszustand seiner Ehefrau immer mehr, und dennoch hört er nicht auf, nach Ostende zu fahren. Das Ende des Buches entwickelt sich dahin, dass seine Ehefrau stirbt und dass er seinen Posten als Bürgermeister an seinen Konkurrenten Van Hamme abgibt. Mich beeindruckt Simenons Stil, dessen Roman mit relativ wenig Handlung und subtilen Charakterbeschreibungen eine hohe Erzähldichte aufweist. Fixpunkte sind Terlinks zu Hause, wie er seine Zigarren raucht, das Café „Le Vieux Beffroi“ und der Marktplatz von Furnes. Diese Fixpunkte beschreibt Simenon in ständig neuen Facetten und Alltagssituationen. Das skandalöse Auftreten von Terlinck muss in der Zeit von 1938 verstanden werden, als der Roman geschrieben wurde. Im heutigen Umfeld von Presse, Medien und Öffentlichkeit wäre Terlinck mit all seinen Skandalen wahrscheinlich nicht lange Bürgermeister geblieben. Im Roman sicken all seine Skandale nur langsam über die Mutter des toten Jef Claes durch, die in Furnes allen davon erzählt. Anstoß für seinen Rücktritt sind letztlich die menschenunwürdigen Umstände, unter denen seine geistig behinderte Tochter lebt. Die Untersuchung dieser Umstände ist gerichtlich angeordnet worden.