Dienstag, 31. Dezember 2013

2014

Weniger als zwei Stunden, und das neue Jahr wird seinen Lauf nehmen. Zu viert, geht es bei uns außerordentlich ruhig zu. Im Fernsehen läuft "Keinohrhasen" mit Til Schweiger. Nichts werden wir großartig feiern, um Mitternacht werden wir uns den Sekt schmecken lassen. Und wie an all den anderen vergangenen Silvesterabenden, werden wir optimistisch nach vorne schauen. Von Vorsätzen halte ich nicht viel, zumal in den letzten Jahren mich meine Familie, das Rennradfahren und das Bloggen stets in die richtige Spur gebracht haben. Das wird bestimmt auch in 2014 so sein. Sonst halte ich es wie Paterfelis, dass nämlich nicht alles zwingend in einen Zusammenhang gepresst werden muss. Daher möchte ich das neue Jahr mit dem passenden Titel von U2 „New Years Day“ begrüßen. Eigentlich sollte das Stück, das 1983 erschien, den Widerstand Polens gegen die Existenz als Satellitenstaat der UdSSR thematisieren. Genießt die wabernden Gitarrenklänge und Bono's ätherische Stimme. 1985 habe ich U2 live in Köln erlebt ! Ich wünsche Euch allen ganz viel Gesundheit, ganz viel Glück und viele schöne Stunden 2014 !


Samstag, 28. Dezember 2013

Heiliger Nepomuk

Im Mittelalter ging es ganz und gar nicht zimperlich zu. Im 14. Jahrhundert hatte in Prag der Erzbischof das Sagen, was dem böhmischen König Wenzel gründlich missfiel. Er suchte und fand die Gelegenheit, das Gebiet seiner Herrschaft zu erweitern: 1392 starb der Abt des Benediktinerklosters, der gleichzeitig Bischof des an Prag grenzenden Bistums war. Kurzerhand wollte der König einen ihm angenehmen Fürsten in das Amt des Bischofs hieven. Johannes aus Pomuk , Generalvikar beim Prager Erzbischof, trickste. Als Wenzel mehrere Wochen auf einer Burg am anderen Ende Böhmens auf der Jagd war, organisierte Johannes eine Wahl. Das Benediktinerkloster wählte einen eigenen Kandidaten, der Nachfolger des Bischofs werden sollte. Als Wenzel zurückkehrte, fühlte er sich hintergangen. Außer sich vor Wut, machte er kurzen Prozess. Er verhaftete Johannes. Später wurde Johannes gefoltert, er wurde auf die Prager Karlsbrücke gestellt, in die Moldau geworfen und dort ertränkt. Dreihundert Jahre später erinnerte man sich in Prag an Johannes aus Pomuk – wobei aus der Vorsilbe „aus“ im Tscheschischen „Nepomuk“ wurde. In seiner Legende ging es auch um das Beichtgeheimnis, da er nicht verraten hatte, was Wenzels Ehefrau ihm gebeichtet hatte. 1729 sprach der Papst ihn heilig. Fortan wurde er nur noch der Heilige Nepomuk genannt. Seine Denkmäler stehen vielerorts auf Brücken.




Da der Heilige Nepomuk ertränkt worden war, ist er nicht nur Schutzpatron der Brücken, sondern Schutzpatron von alledem, was mit Wasser zu tun hat. Auffällig ist sein Schweif aus fünf Sternen, da sein im Wasser schwimmender Leichnam nach der Legende von fünf Flammen umsäumt war. 


Am Rheinufer aufgestellt, ist er nunmehr zum Schutzpatron der Schifffahrt auf dem Rhein ernannt worden. Genauso soll der Allzweck-Wasser-Heilige für Beistand sorgen, dass die Hochwasser auf dem Rhein glimpflich verlaufen. Mit Gott voraus !

Freitag, 27. Dezember 2013

eine etwas verkehrte Weihnachtsgeschichte

Der Weihnachtsmann kam nicht im roten Mantel und mit roter Zipfelmütze, sondern im Monteuranzug in einem schmutzigen, abweisenden Rot.

Genauer gesagt, waren es zwei Weihnachtsmänner, beziehungsweise zwei Monteure. Der Schriftzug des Firmennamens funkelte Himmelblau auf dem weißen Transporter, als die Monteure ausstiegen und mich mit einem schlappen Handschlag begrüßten. Das war ungewohnt, denn von Handwerkern kannte ich ein festes Zupacken.

„Wo können wir Ihnen helfen ?“ - „Unser Klo im ersten Obergeschoss. Wenn wir die Spülung betätigen, wird alles überschwemmt.“ - „Dann schaun wir mal.“

Sie trabten unsere Holztreppe hoch und näherten sich dem Ort des Geschehens, wo sich unheilvolles zwischen den Rohrleitungen der Toilette ereignet hatte. Vor der Türe unseres Badezimmers fiel mir auf, wie ungleich das Paar der beiden Monteure war. Die Gestalt des ersten Monteurs schraubte sich in die Höhe, sein Schritt stakste vorwärts, sicher glitt sein Kopf eine Handbreit unter dem Türrahmen hinweg. Der andere Monteur trottete hinterher, sein Körper war unter der runden Gestalt zusammen geschrumpft. Hinter seiner runden Brille mit den großen Gläsern ahnte ich Schlauheit, ja , sogar Expertenwissen, was die Verstopfung unserer Toilette betraf.

„Schön, dass Sie da sind … „
atmete ich auf, denn der Zeitpunkt war höchst ungeeignet. Genau fünf Tage vor Heiligabend meldete unsere Toilette „Land unter“, und vor dem Weihnachtsfest lag außerdem ein Wochenende. Unsere Spirale hatte sich mühselig durch die Rohre hinter der Toilette gewälzt, aber ohne Erfolg. Wenn ich die Spülung betätigte, schlüpfte Wasser durch das zum Sockel schlecht abgedichtete Rohr. Das Wasser bahnte sich seinen Weg und überschwemmte in Rinnsalen unser Badezimmer. Das hatte sich auch nicht geändert, als ich die Toilette demontiert hatte und unsere Spirale bestimmt einen Meter tiefer eindrang.

 „Wann haben Sie angerufen ?“ – „Gegen zehn Uhr.“ – „Da haben Sie Glück gehabt. Was bis zehn Uhr gemeldet wird, können unsere Monteure auf der Tour abarbeiten. Was später gemeldet wird, kommt für die Folgetage rein.“

Nun stand die eklige Brühe in dem Rohr, sie floss nicht ab. Und ich kannte sogar die Ursache: der Po unserer Kleinen hatte ganz weh getan, Massen von Feuchttüchern hatte sie in die Toilette geworfen, anschließend hatte ihr großer Bruder ein noch größeres Geschäft erledigt – und nichts ging mehr.

Der kleine Monteur kramte sein Expertenwissen hervor. Mit einfachen Mitteln versuchte er, eine maximale Wirkung zu erzielen. Eine Saugglocke, fast tellergroß, stieß das Wasser aus Leibeskräften in die Toilette. Es gluckste, das Wasser begehrte auf, zerwühlte das Rohrsystem in seinem Inneren. Aber die Wirkung war gleich Null. Auf den mir bekannten Pfaden breitete sich die Überschwemmung aus.

„Jedenfalls schön, dass Sie da sind. Ich hatte Angst, dass Sie es vor Weihnachten nicht mehr schaffen …“ – „Das kommt drauf an. Da einige in Weihnachtsurlaub sind, sind wir mit einer kleineren Besetzung unterwegs. Dabei sind wir bemüht, das allerdringendste abzuarbeiten.“

Die Mittel wurden rabiater. Der lange, schlacksige Monteur packte zu und demontierte den Abfluss unseres Waschbeckens. Auf der Kabeltrommel blitzte die elektrische Spirale. Sie fraß sich durch die Rohre, der metallisch hell Klang schallte durch unser Haus, gleichzeitig floss Wasser durch einen Schlauch. Die Spirale war gründlich, denn genau zehn Meter kämpfte sie sich durch die Hauptleitung hindurch, fast bis in den Kanal hinein.

Ich war erleichtert, denn danach floß das Wasser ungehemmt. Wasserhähne waren aufgedreht, ich betätigte die Klospülung im Endlos-Takt durch die Rohre. Das plätschernde Fließen des Wassers war befreiend. Ich spürte Horizonte in meiner Seele, die kein Hindernis stoppen konnte. Beruhigt konnten wir wieder unsere Toilette benutzen.

„Da haben Sie noch einmal Glück gehabt...“
kommentierte der große Monteur das Geschehen. Beide strahlten. In höchster Not hatten sie uns geholfen. Und ich reflektierte die Umstände, unter denen sie tagtäglich ihren Job machten. Das war eine Drecksarbeit, im wahrsten Sinne des Wortes. Zwischen menschlichen Exkrementen herum wühlen. Ich bewunderte, wie die beiden sich nicht geekelt hatten und gut gelaunt dem Tatort in unserem Hause den Rücken kehrten. Die 140 €, die bar zu zahlen waren, zahlte ich gerne.

„Frohe Weihnachten“
verabschiedeten sich die beiden. Ihre roten Overalls hatten nichts mit Weihnachtsmännern zu tun. Doch ich kam mir unsichtbar beschenkt vor. Dass in unserem Badezimmer wieder alles in Ordnung war. Das Weihnachtsfest konnte nun seinen gewohnten Gang nehmen.

Tage später, am zweiten Weihnachtsfeiertag, erfuhr ich, dass es schlimmer kommen konnte. Meine Eltern erzählten von meinem Onkel. Es geschah am Heiligen Abend. Vormittags und plötzlich kam die Überschwemmung. Die Toilette stank und lag direkt neben der Küche.

Sein Schwiegersohn eilte aus dem Nachbarort mit der Spirale herbei. Gemeinsam wurden sie Herr der Lage. Dreck und Gestank und Verstopfung waren verschwunden. Das Malheur hätte sich in der Tat keinen schlechteren Zeitpunkt aussuchen können.

Mittwoch, 18. Dezember 2013

Manfred Mann's Earth Band - Father of Day, Father of Night

Kaum hatte ich den Text von „Earth Day und Post-Tower“ niedergeschrieben, ging mir die Musik nicht mehr aus dem Kopf. Ich war sensibilisert. Alljährlich verehrten die Menschen am 22. April unseren Planeten, die Erde. Sie wollten die Schöpfung bewahren, Gewohnheiten und Verhaltensweisen überdenken, damit unsere Erde all das Schöne, was unser Leben lebenswert macht, erhält.

Ich summte „Earth Hymn“, ein Lobgesang auf die Erde, von „Manfred Mann’s Earth Band“ vor mich hin. Ich assoziierte sofort: „Manfred Mann’s Earth Band“ und „Erde“ und „Earth Day“ gehören zusammen wie Pech und Schwefel oder Bayern München und die Deutsche Fußball-Meisterschaft. Denn das Entstehungsgeschichte begann gleichzeitg im Jahr 1971. Ich irrte, denn Michael Jackson ertönte alljährlich zum „Earth Day“ mit seinem Stück „Earth Song“.

Dennoch: „Manfred Mann’s Earth Band“ und der „Earth Day“ gehören irgendwie zusammen, weil beide die Erde in den Mittelpunkt unserer Wahrnehmung rücken. „Manfred Mann’s Earth Band“ geht dabei noch einen Schritt weiter: auf dem Album „Solar Fire“, welches 1973 erschien, geht Manfred Mann den letzten Dingen auf den Grund. Dabei reist der Zuhörer mit Manfred Mann und all seinen Improvisationen auf dem Synthesizer quer durchs Weltall. Den Planeten Pluto untermalt er mit Hundegebell, um die Gestalt von Saturn und Erde legt er einen sinnstiftenden Kreis („Saturn – Lord of the Ring“ und „Earth the Circle“).

Die letzten Dinge entdeckt Manfred Mann in der Sonne („Solar Fire“) und in der Dunkelheit („Darkness in the Beginning“). Und dann ist da noch dieses geniale Stück, das das Album eröffnet: „Father of Day, Father of Night“.

Ursprünglich von Bob Dylan gesungen, ist das Stück nicht mehr wieder zu erkennen. Die Erde kommt im Songtext explizit nicht vor. Aber „birds“, „trees“, „grain“ oder „wheat“ gibt es nur auf der Erde. Darüber hinaus kennen wir noch kein Leben auf anderen Planeten.

Wie ein Leitmotiv beginnen die Zeilen mit „Father“: „Father of Day“, „Father of Night“ … „Father who builts the Mountains so High“ … „Father of Loneliness and Pain“ … Mit dem Wort “Father” erhält die Musik eine metaphysische Dimension, wobei „Father“ Ursprung, Schöpfer oder Gott bedeuten kann.

Manfred Mann hat bei der Komposition sicherlich nicht an Metaphysik gedacht, aber „Father of Day, Father of Night“ hat eindeutig metaphysische Wesenszüge. Die Denkweise der Metaphysik hatte sich in der Antike herausgebildet. Es war Aristoteles, der hinter der sichtbaren Gestalt der Dinge in immer tiefere Ebenen der Dinge hinein schaute. Es bildete sich ein Kern, ein gemeinsamer Ursprung aller Dinge heraus. Wegen des gemeinsamen Ursprungs verkörperten alle Dinge auf der Welt eine Einheit. Die letzten Dinge waren nicht zwingend bei Gott zu suchen: es konnten auch Mythen, Urbilder oder das Denken des Menschen sein, wobei die Mythen auch von Göttern geprägt waren.

Im Mittelalter hatte Thomas von Aquin das christliche Weltbild in die Lehre von den letzten Dingen aufgenommen. Gott wurde zum Ursprung aller Dinge. Der menschliche Verstand wurde zum Instrument, Gott in all den Dingen, die wir sehen, zu erkennen.

Mit Descartes wurde zu Beginn der Neuzeit der menschliche Verstand eigenständig („cogito ergo sum“). Der Mensch reflektierte das naturwissenschaftliche Weltbild, wodurch die letzten Dinge in mathematisch-naturwissenschaftliche Zusammenhänge verlagert wurden. Die letzten Dinge kamen nicht abhanden. So suchte beispielsweise Sartre über neue Stufen des Bewusstseins, den Dingen wieder einen inneren Sinngehalt zu verleihen.

„Father of Day, Father of Night“ schwenkt nach Thomas von Aquin und nach Aristoteles zurück. „Father“ steht am Anfang einer jeden Song-Zeile. „Father“ ist somit der Ursprung aller Dinge: Tag, Nacht, Kälte, Hitze, Luft, Bäume, Minuten, Tage und so weiter. Überall hat der „Father“ seine Hände im Spiel.

Manfred Mann überbringt eine wunderschöne Botschaft, da er „Father“ an den Anfang stellt: unsere Erde ist eine Einheit. Es gibt diese letzten Dinge, die Menschheit lebt gemeinsam auf dieser einen Welt, wir müssen alles Menschen-mögliche tun, um die Schönheit unseres Planeten zu bewahren.

Ehrlich gesagt, habe ich dieses ekstatische Gehabe und Herum-Gehopse von Michael Jackson nie ausstehen können (bitte um Verzeihung, wenn ich über einen Toten so schreibe). Anstatt dessen hätte es „Father of Day, Father of Night“ verdient gehabt, jedes Jahr zum „Earth Day“ gespielt zu werden.


Montag, 9. Dezember 2013

übel

Der Gesang des Schulchors „In der Weihnachtsbäckerei“ war friedlich verstummt, als sich alles in Wohlwollen auflöste, Schülerinnen und Schüler zu ihren Eltern zurückstrebten und der Adventsbasar in der Grundschule alle Besucher mit offenem Herzen empfing. Die Schulleiterin hatte mit ihrer etwas quäkenden Stimme den Basar eröffnet, die Aula war rappelvoll, Eltern und Kinder sortierten sich. Das Licht des späten Nachmittags fiel so unbestimmt durch die Fenster wie die Blicke in den Gesichtern, die am Freitag vor dem ersten Advent mit der Vorweihnachtsstimmung noch nichts sonderliches anfangen konnten. Schüchtern hingen selbst gebastelte Weihnachtssterne die Fensterflächen hinab, das Kuchenbüffet sah dem Besucherandrang erwartungsvoll entgegen.

Voller Skepsis sah ich die beginnende Weihnachtszeit auf mich zurollen. Dennoch sah ich die Dinge positiv. Die Schule hatte sich Mühe gegeben. „In der Weihnachtsbäckerei“ zu singen, betrachtete ich als Kult, denn dieses Weihnachtslied fiel effektiv aus dem Rahmen. Ich entkam dem ganzen Gedrängele, indem ich einen Stehtisch dicht am Fenster erwischte. Ich schaute auf den Schulhof, wo Kinder in wirrem Gehopse hin- und her rannten, ihre Eltern umschwärmten und sie dann hinter sich herzogen, um ihnen in ihren Klassenräumen Basteleien zu zeigen.

Ich sah die Dinge auch deswegen positiv, weil ein Märchenerzähler vorlas. Und zwar Hänsel und Gretel. Der Märchenerzähler gab sich Mühe und nahm sich viel Zeit, denn eine Stunde lang verschwand unsere Kleine gemeinsam mit anderen Kindern. Niemand störte die Kinder hinter einem grünen Samtvorhang, wo der Märchenvorleser sie in aller Ausführlichkeit in die Geschichte über eine Hexe und zwei bitterarmen Kindern entführte, die zum Schluss ein gutes Ende fand.

 Derweil stützte ich meine Ellbogen gemütlich auf den Stehtisch. Der Kaffee dampfte, ich schlürfte den brühwarmen Muntermacher hinunter. Zugezogen, hatte ich zu den Bewohnern im Ort keinen regen Kontakt. Doch Gesichter, die ich über Kindergarten oder Schule oder Nachbarschaft kannte, rannten mir bei solchen Veranstaltungen in der Grundschule stets über den Weg.

Es war Ellen.

Die Falten hatten in dem Gesicht der Mittvierzigerin Überhand genommen. Schlaff hing ihr schulterlanges, braunes Haar herunter. Ich kannte sie, weil die Firma ihres Mannes uns damals ein Angebot für Solarzellen auf unserem Häuserdach machen wollte – was dann aber nicht geschah. Ihr jüngster Sohn ging in die dritte Schulklasse.

„Wie geht es ?“
„Übel. Manchmal bin ich nur noch am Heulen.“

Ich wusste, dass ihr Ehemann sie kurz vor der Silberhochzeit verlassen hatte, weil er seine eigene Freiheit entdeckt hatte und sich selbst verwirklichen wollte.

„Dein Lebensstandard geht wahrscheinlich gleich Null.“
„Ich sage nur: übel. Im Hotel mache ich Zimmer sauber, weil ich den ganzen Tag nicht in der Bude hocken kann. 600 Euro verdiene ich dort. 100 Euro bleiben übrig, weil dann das Amt kein Wohngeld mehr zahlt. Das Amt zieht mich also auf Hartz IV-Niveau runter, egal, was ich mache.“

„Deine Jungs ?“
„Genauso übel. Mein ältester, der sechzehn ist, ist seit einem Jahr bei seinem Vater. Mein Ex hat nun eine Freundin, die gut verdient. Er kann unserem ältesten all dieses elektronische Spielzeug bieten, was ich ihm nicht bieten kann.“

Ich holte uns beiden einen weiteren Kaffee. Ich staunte, wie ruhig sie war. War es unser Gespräch, das ihre Verkrampfung löste ? Dann umklammerten ihre Finger den Kaffeebecher, in langen Schlücken sog sie ihn in sich hinein. Das Menschgewimmel vor der Kuchentheke hatte sich gelichtet. An den Spiegelungen der Deckenbeleuchtung vorbei, verirrte sich mein Blick durch das Fenster, wo sich unsere Pfarrkirche standhaft von dem grauen Novemberhimmel abhob.

„Deine anderen beiden Jungs ?“
„Der ältere schreit nur rum. Ich könne nicht kochen, er will meinen Fraß nicht essen, ich wäre eine Schlampe. Vater und Freundin stacheln ihn an. In ein paar Jahren ist der auch bei seinem Vater, weil er zahlungskräftiger ist und mehr bieten kann.“

„Deine Eltern ?“
„Habe ich keine. Bin bei meiner Pflegemutter aufgewachsen.“

Ich senkte meinen Kopf. Das war übel.

Wir redeten über weitere Übelkeiten, über Scheidungsrecht, über Endlosveranstaltungen von Gerichtsprozessen, über eine höchst richterliche Entscheidung, dass die 250 Euro Unterhalt ihre Richtigkeit hatten. Übel war auch der tägliche Existenzkampf, mit dem Geld klar zu kommen.

Sie jammerte nicht, umgekehrt war ihr aber auch kein Lächeln zu entlocken. Dieser Adventsbasar hatte mir übel mitgespielt. Wie aufs Glatteis geführt kam ich mir vor, ob und wie ich ihr helfen könnte. Üblicherweise hielt ich mich von solchen Beziehungsdramen ganz weit fern. Bislang kannten wir sie so gut oder so schlecht, wie wir die übrigen Nachbarn in unserer Nachbarschaft kannten.

Als ich den Adventsbasar verlassen hatte, geisterte sie noch lange in meinem Kopf herum. Von solchen Einzelschicksalen bekamen wir eher selten etwas mit. Ich hatte in Abgründe hinein geschaut, die uns erspart geblieben waren. Glücklicherweise.

Mittwoch, 4. Dezember 2013

Grundsätze des Bloggens

Café "La Royale", Quelle: www.laroyale.be
Es ist eine eigene Kultur, in einem Café in Belgien einen Kaffee zu trinken. So wie man Kölsch in den Brauhäusern der Kölner Altstadt zu trinken pflegt, Alt-Bier in der Düsseldorfer Altstadt oder Apfelwein in den Lokalen in Frankfurt-Sachsenhausen, haben Cafés in Belgien ihre eigene Tradition.

Kaffee-Trinken ist Stil. Der Hintergrund und das Drumherum müssen stimmen. In den beiden Cafés, die Leen und Jan mit mir in Leuven aufgesucht hatten, war die Atmosphäre gediegen, die schweren Holzvertäfelungen an der Wand ließen mich an Antikmärkte denken. Im ersten Café, direkt neben dem Rathaus, hatte ich die Malereien bis zu den hohen Decken bestaunt, Malereien auf Holz, auf denen ich glaubte Alltagsszenen im Stil der flämischen Maler aus dem 16. oder 17. Jahrhundert zu erkennen. Das Café „La Royale“, in dem wir den Abschied auf uns zukommen ließen, lag gegenüber dem Bahnhof, damit ich meinen Zug auf keinen Fall verpassen konnte.

Auch das Café „La Royale“ beeindruckte, wie einfach es eingerichtet war. Wir saßen an blanken Holztischen mit einem parkett-ähnlichen Muster, der sachte graue Steinfußboden schob sich unauffällig darunter. Die schweren dunkelbraunen Holztüren ließen einen frischen Luftschwall hinein, wenn sie sich öffneten. Die Wände verschönerten Zeichnungen vom Bahnhofsvorplatz, Bürgerhäuser mit Arkadengängen, von denen eines das Café „La Royale“ war.

Kleine Kuchenstücke waren zum Kaffee serviert worden, das war selbstverständlich und gehörte zu einer gepflegten Kaffee-Kultur.  Eine bierselige Ruhe schwappte zu mir herüber, obschon niemand in dem gut besuchten Café Alkohol trank. Zwischen dem Kaffee und all den anderen Gesprächen im Café zerrann die Zeit. Der Barkeeper spülte Tassen, Tische und Stühle spiegelten sich auf der Glasverkleidung über der Theke. Das Zeitkontingent, das mir in Leuven zur Verfügung stand, ging unweigerlich zur Neige.

Leuven war dabei, mich in ihren letzten Atemzügen umzuhauen. Ganz weit entfernt lag die Stadt von all der Geschäftigkeit, all der Hektik und all dem Zeitdruck zu Hause entfernt. Und so harmonisch, wie Leuven war, voller alter Bausubstanz, voller Cafés und Geselligkeit, ohne große Kaufhausketten und Einkaufspassagen, durchsetzt mit kleinen Geschäften, ohne Abrißorgien und Großbaustellen, kamen mir Städte wie Köln oder Bonn beinahe sogar häßlich und abstoßend vor.

Es half nichts. Das zerbröselnde Zeitkontingent nutzte ich dazu, um über die Bloggerei zu reden, was eigentlich der Anstoß für meine Reise nach Leuven war. Leen Huet hat ihre eigene Blog-Seite, die Jan ihr gestaltet hatte. Jan selbst war weder Blogger, noch war er in sozialen Netzwerken vertreten.

Leen und ich scharten unsere Gedanken zusammen, fanden zurück zur Bloggerei. „Uw eigen mening … je bent helemaal vrij“ meinte Leen mehrfach, auf Deutsch: „Deine eigene Meinung … Du bist vollkommen frei.“ Unsere Essenz, welche eigenen Sichtweisen wir beim Bloggen hatten, war ein gewaltiger Abschied.

 In vollkommener Freiheit entwickelten wir unsere Grundsätze des Bloggens:
  • Bloggen ist Identität. Wir schlüpfen in die Rolle eines Bloggers, dessen Identität aus unser selber stammt. Als unbeteiligter Beobachter inszenieren wir unsere Themen in unserem Blog.
  • Bloggen ist Lebenseinstellung. Wir müssen genauer hinsehen, um den Dingen auf den Grund zugehen. Der flüchtige Blick, wie wir die Dinge tagtäglich sehen, reicht nicht aus. Wir müssen die Dinge drehen und wenden, um Neues zu sehen. Andere Wege, andere Perspektiven, von oben, von unten, von vorn, von hinten, Schnellabriss, Tiefenbohrung, zu Fuß, per Rad, mit dem Auto, mit der Bahn, Gegenden, die wir nie gesehen haben und so weiter.
  • Bloggen ist Strukturieren. Wir beobachten ganz viele Dinge, unsere Augen sind ganz weit geöffnet. Wir sammeln, ordnen und strukturieren, was wir beobachtet haben. Wir dokumentieren. Wir machen Notizen und fotografieren mit der Digitalkamera, damit das Gesehene nicht verfliegt und später abrufbar ist. Wir ordnen ein, welches die Oberthemen sind, was in welche Zusammenhänge gehört und wie die Details aussehen.
  • Bloggen ist Themensuche. Schon beim Beobachten nehmen wir die Themen wahr. Wie selbstverständlich, wird in den Massenmedien über Themen berichtet – in Zeitungen, im Fernsehen und im Radio. Darunter nutze ich gerne Podcasts aus Radiosendungen. Daraus formen wir eine Themensammlung, die mit eigenen Beobachtungen angereichert wird.
  • Bloggen ist Unabhängigkeit. Wir entscheiden. Niemand gibt uns vor, über welche Themen wir etwas schreiben und wie wir über diese Themen schreiben. Das ist ein klein  wenig wie bei einer Tageszeitung, in der wir bestimmen, wie wir die einzelnen Rubriken mit unseren Texten gestalten. Unsere eigene Meinung sollten wir plazieren, was wir von den Dingen halten.
  • Bloggen ist Eingrenzen. Bezogen auf die Vielzahl potenzieller Themen, ist es unmöglich, über alles zu schreiben. Unser Medium ist der Text. Also posten wir eher selten in dem Medium der Fotografie (oder Malerei oder Architektur usw.). Themen, die uns nicht interessieren, von denen wir keine Ahnung haben oder zu denen wir sonst wie keine Berührungspunkte haben, lassen wir weg. Auch allzu banale Themen, wenn der örtliche Musikverein sein Jubiläum feiert, wenn um die Ecke eine Kaninchenausstellung stattfindet oder wenn ein neues Kosmetikstudio eröffnet, lassen wir lieber weg.
  • Bloggen braucht Leser. Nur mit den Lesern können wir feststellen, ob die Texte überhaupt den Leser erreichen und wie sie den Leser erreichen. Was beim Leser ankommt, daran sollten wir uns orientieren. Danach ist vieles Gefühl, bei welchen Themen wir gut drauf sind und bei welchen anderen Themen wir schlecht drauf sind. Die Stärken bei den guten Themen sollten wir Zug um Zug ausbauen.
  • Bloggen ist Generalistentum. Die Palette, über die wir schreiben, sollte breit aufgestellt sein, so dass wir uns in eine Vielzahl von Einzelthemen hineindenken müssen. Aus den Querverbindungen zwischen den sehr unterschiedlichen Einzelthemen können wir die Zusammenhänge innerhalb eines übergeordneten Ganzen erkennen. So wird auch verhindert, dass wir zu Fachidioten werden. Es muss so recherchiert werden, dass Fakten und Details stimmen und nichts falsch ist. Gelegentlich sollten wir uns ein „Heimspiel“ in dem Themenbereich leisten, den wir studiert haben. Bei Leen ist es die Kunstgeschichte, bei mir sind es Wirtschaftsthemen.
  • Wir müssen uns in Menschen hineindenken. Gefühle, Empfindungen, Erfahrungen, Erinnerungen gehen stets vom Menschen aus. Selbst Maschinen oder technische Aggregate werden letztlich so beschrieben, wie wir sie als Mensch erleben. Wir sollten uns also mit einer angemessenen Ausführlichkeit mit den handelnden Menschen befassen.
  • Bloggen muss authentisch sein. Wir können die Dinge nur so beschreiben, wie wir sie selbst wahrgenommen haben. Wir dürfen uns nicht in andere Menschen hinein verbiegen, um Gefühle aus einem anderen Blickwinkel zu beschreiben.
Rund vier Stunden hatten wir gemeinsam in Leuven verbracht. Mein Kopf war vollgestopft mit Erlebnissen, von denen ich noch wochen- und monatelang zehren würde.


Leen, rechts; Jan, Mitte; ich, links