Dienstag, 25. September 2012

Wein, Chips und Crime Time


Lieber Leser, möchtest Du meine Schattenseiten kennen lernen, die Du nicht vermutet hättest ? So dass mein Bild als sportlicher, ambitionierter, trainierter, gesunder Mensch ins Wanken gerät ?

Zugegeben, im Grunde steckt ein kleiner Garfield in mir. Nicht, was Maß, Proportionen und Gewicht betreffen, sondern meine Bequemlichkeit und meine Nachgiebigkeit, Leckereien und Genüsse durchaus zuzulassen. Einerseits durchtrainiert, andererseits dieses Stück Garfield, der leckeres Essen in sich hinein stopft und nicht genug davon bekommen kann.

Wider meine Gesundheit verhalte ich mich. Jeder Arzt dürfte die Hände über seinen Kopf zusammenschlagen. Alle Grundsätze von Gesundheit und Maß-Halten schmeiße ich über Bord. Das ist zwar nicht jeden Tag so. Aber es gibt Tage – vor allem an Wochenenden – da steigt dieser Hunger nach Chips in mir auf. Abends lasse ich mich in meinen Fernsehsessel zurückfallen. Ich lehne mich zurück, schlage meine Beine übereinander, ich sinke in mich zusammen, die Masse meines Körpers breitet sich aus, ich bewege mich keinen Millimeter. Ich ruhe und warte die Dinge ab, die kommen werden. Zu faul bin ich um aufzustehen, geschweige denn, die Treppe hoch zu laufen oder in den Keller zu gehen.

Die wichtigen Dinge, um den Abend einzuläuten, umgeben mich. Wein, Chips und Crime Time. Dazu das Laptop auf dem Boden und ein unterhaltsames Buch auf dem Wohnzimmertisch, falls Verbrechen und Krimis wider Erwarten langweilen sollten.

Das Knistern der Chipstüte zwischen meinen Fingern erzeugt eine Vorfreude. Die Chips auf der Verpackung lachen mich an. Beste Kartoffeln, bestes Sonnenblumenöl und ein knackig-echter Geschmack werden mich verführen. Es ist gewiss: wenn ich die ersten Chips gegessen habe, werde ich nicht mehr aufhören. Der Garfield in mir wird sich daran nicht satt essen können. Maß halten: Fehlanzeige.

Die Crime Time flimmert über den Fernsehbildschirm. Der Alte. Wie in anderen Krimi-Serien, wechseln Schauspieler, Kommissare, Ermittler, Gerichtsmediziner schneller als ich mitdenken kann. Walter Kreye als „Der Alte“ ist von der Bildfläche verschwunden. Der neue „Alte“ hat ein kugelrundes Gesicht, weit geöffnete Augen, einen Dreitagebart und seine Haare sind nach hinten gekämmt. Michael Ande zieht mich in seinen Bann. Dieses Urgestein hat alle Kommissare überdauert. Sein schütteres, graues Haar dokumentiert all die Erfahrung von 35 Jahren, in der er den „Alten“ assistiert. Michael Ande verkörpert für mich noch den Urtypen von deutschen Ermittlern, die feinfühlig in das Umfeld der beteiligten Personen einsteigen, die die Psychologie der Menschen studieren und ohne große Knalleffekte auskommen. Im Fernsehen werden wir überschwemmt mit Krimis. „Der Alte“ habe ich stets als eine ruhigere Variante gesehen.

Der nächste Festakt des Abends naht: das Entkorken der Weinflasche. Auch hier mögen die Mediziner Nachsicht beim nachlässigen Umgang mit meiner Gesundheit haben. „Da flehen die Menschen die Götter an um Gesundheit und wissen nicht, dass sie die Macht darüber selbst besitzen. Durch ihre Unmäßigkeit arbeiten sie ihr entgegen und werden so selbst durch ihre Begierden zu Verrätern an ihrer Gesundheit“ so hatte einst Demokrit vor 2.500 Jahren gesagt. Als Rheinländer halte ich mich lieber an meine rheinischen Artgenossen.

„Schütt' die Sorgen in ein Gläschen Wein. 
deinen Kummer tu' auch mit hinein. 
Und mit Köpfchen hoch und Mut genug 
leer das volle Glas in einem Zug! Das ist klug!“
so hatte einst Willy Schneider gesungen. 

Der Rheinländer Konrad Adenauer sah das nicht anders: „Ein gutes Glas Wein ist geeignet, den Verstand zu wecken.“

Also lasse ich mir Silvaner und Chips auf der Zunge zergehen. Das Glas mit dem kühlschrank-kalten Silvaner leere ich in langen Zügen, und Garfield wäre wahrscheinlich längst betrunken. Nebenher bekomme ich mit, wie der Kommissar Richard Voss den Fall gelöst hat.

Den Abend lasse ich mir auf der Zunge zergehen. Danach erhält der Tatort mit Ulrike Volkerts den Spannungsbogen aufrecht, dann endet die Krimi-Nacht vorläufig. Barbara Schöneberger begibt sich mit ihrem New Pop Festival in seichtere Gewässer. Ich packe mein Laptop auf den Wohnzimmertisch und surfe hinein in meine Blog-Seite.

Bis Lana del Rey bei Barbara Schöneberger auf die Bühne tritt. Live. Aber das ist schwach. Nur ein matter Abklatsch der Studioversion von „Summertime Sadness“. Lana del Rey sieht mit ihrem langen braunen Haar zwar bildhübsch aus, aber lustlos flüstert sie vor sich hin, als hätte man ihr das Singen aufgezwungen. Wahrscheinlich ist es auch schwierig, diese Stimmung von Melancholie oder „Sadness“ in das Lied hinein zutransportieren. Ich bin enttäuscht.

Irgendwann nach Mitternacht, wenn ich die Flasche Silvaner geleert habe, falle ich ins Bett. Am nächsten Morgen habe nicht einmal eine Andeutung von einem dicken Kopf. Medizinern dürften wohl die Haare zu Berge stehen.

Donnerstag, 20. September 2012

Boulevardpresse


Heute Morgen im Autoradio. Gespannt lauschte ich Oliver Briesch in Einslive, wie er in seinem gewohnten ironischem Unterton das Alltagsgeschehen analysierte und treffsicher auf den Punkt brachte.

Heute waren die Nacktfotos von Kate Middleton an der Reihe, wie sie in der Boulevardpresse kursierten. Welch ein Job für einen Fotografen ! Sich in der Sonne der Provence aalen, den Duft von Lavendel einatmen, die mediterrane Landschaft genießen. Auf wenige entscheidende Momente hin arbeiten: aus 800 Metern Entfernung zwischen Bäumen hindurch spähen, Kate mit nacktem Busen in ihrer Ferien-Villa erwischen, schließlich den Auslöser der Kamera betätigen, die mit ihrer Super-Telefoto-Linse messerscharfe Fotos geschossen hat.

Der Paparazzo hat wahrscheinlich für den Rest seines Lebens ausgesorgt. Königsblätter aus Frankreich, Italien, Irland und Schweden rissen sich um die Fotos. Durch den Verkauf der Fotos an die Boulevardpresse ist der Traum vom ganz großen Geld wahr geworden. Nur die englischen Königsblätter weigerten sich, die Geschmackslosigkeiten abzudrucken.

Während Oliver Briesch das Geschehen mit der sonnigen Landschaft Südfrankreichs übermalte, packte mich ein gewisser innerer Ekel, mich auf dieses Niveau des Boulevard-Journalismus herunter zu bewegen. Eigentlich will ich so etwas nicht lesen, doch im Alltag fällt es mir schwer, diese Art von Schlagzeilen und Meinungsmacherei komplett auszublenden.

Zu sehr lauern an den Straßenecken die Schlagzeilen von Bild und Express. Wohl wissend, dass dies kein seriöser Journalismus ist, schaue ich dennoch gelegentlich drauf: wenn wieder einmal Gewaltverbrechen an Säuglingen oder Kleinkindern geschehen sind, wenn – berechtigterweise – über die Altersarmut berichtet wird oder wenn es um die Fußball-Bundesliga geht.

Die Boulevardpresse ist unseriös, weil sie reinen Marktmechanismen folgt. Bezogen auf die Presselandschaft bedeutet dies: wenn der Leser aufreißendes und anstößiges lesen will, wird es auch gedruckt.

Liebt Heidi Klum ihren Bodyguard ? Muss Jenny Elvers in eine Entziehungskur ? Ist Shakira schwanger ? Das sind die Fragen, die die Welt bewegen. Nicht, ob es endlich Frieden in Syrien gibt oder ob der Euro noch zu retten ist. Die Dummheit des Lesers regiert.

Heerscharen von Paparazzi dürften Heidi Klum und ihrem Liebesleben gefolgt sein. Auf frischer Tat ertappt. Die Suche nach einem Ereignis, die die Massen bewegt. Das entscheidende Foto im entscheidenden Augenblick. Dabei steckt bei so manchem Paparazzo sicher ein Stück krimineller Energie dahinter.

Andere Fotoreporter, die der seriösen Berichtserstattung zuzuordnen sind, verspüren sicherlich eine innere Zufriedenheit und einen erfüllten Tag. Wenn sie für Tageszeitungen Vereinsjubiläen oder Events in der Stadt oder Sportveranstaltungen fotografieren, dürfte ihre Freude aber beim Blick auf die Gehaltsabrechnung abnehmen, denn ihr Einkommen rangiert im Niedriglohnsektor ungefähr auf dem Niveau von Friseuren oder Verkäuferinnen. Genauso vermute ich, dass auch hervorragende Foto-Blogs – von denen ich sehr viele kenne - kaum an irgendwelche Zeitungen verkauft werden könnten. Dazu ist der Markt zu sehr überschwemmt von Fotoagenturen, Fotoateliers und freien Fotografen.

Der Kampf von Kate Middleton gegen die Königsblätter ist zäh. Pressefreiheit ist in der Demokratie ein hohes Gut – selbst in dieser schmuddeligen Variante. Französische Gerichte haben die Veröffentlichung verboten. In Italien, Irland und Schweden ist geklagt, aber noch nichts verboten. Jüngst sind die Fotos an eine dänische Zeitung verkauft worden. In Einslive wurde Oliver Briesch bei dieser Vision ohnmächtig: eine Kettenreaktion wäre denkbar, verteilt ungefähr über die ganze Welt. Und die Gerichte hinken mit ihren Verboten und einstweiligen Verfügungen nur stark zeitversetzt hinterher. Solange kann die Veröffentlichung der Nacktfotos nicht gestoppt werden.

Samstag, 15. September 2012

Glockentürme (2) - Belfriede in Belgien und Nordfrankreich


Nachdem ich zu Novas Gockenturm-Projekt in Spanien an der Costa Brava fündig geworden war, habe ich weiter in früheren Reisen herum gestöbert. Auf Fotos und Postkarten bin ich auf Belfriede (auf Französisch „beffroi“) in Belgien und Nordfrankreich gestoßen.  

Die meisten Belfriede wurden zur Zeit der Gotik gebaut und gehören zu den bedeutendsten weltlichen Bauten des Mittelalters. Ihnen gingen häufig hölzerne Türme voraus, von denen keiner erhalten ist. Sie wurden von den Stadtbehörden, den Zünften oder den Gilden als Symbol der bürgerlichen Macht errichtet, auch gegenüber jener der Kirche. In der Regel ist der Belfried mit dem Rathaus verbunden oder befindet sich freistehend daneben.
Als sicherster Ort einer Stadt beherbergte der Turm in seinem Innern meist das Stadtarchiv, die Schatzkammer oder ein Gefängnis. Darüber hinaus diente er als Wachturm und zum Ausrufen öffentlicher Angelegenheiten. Eine Stadtglocke strukturierte die Zeit und gab das Signal zum Öffnen und Schließen der Stadttore, markierte Anfang und Ende der Arbeitszeit oder läutete zu Festivitäten. Heute befinden sich in den meisten Belfrieden Carillons bzw. Glockenspiele.


Mons ist die Hauptstadt der belgischen Provinz Hainaut und liegt kurz vor der französischen Grenze.


Douai liegt in der französischen Provinz „Nord“. Der Glockenturm gehört seit 2005 zum UNESCO-Weltkulturerbe. Seit 1391 befindet sich im Inneren ein Glockenspiel, das mit 62 Glocken eines der größten Europas ist.


Zu dem Glockenturm von Douai existiert ein wunderschönes Gemälde von Jean-Baptiste Corot.




Lille ist die Hauptstadt des Départements „Nord“, das durch die Anfangsziffern 59… auf französischen Autokennzeichen gekennzeichnet ist. Der Glockenturm befindet sich auf der Handelskammer (chambre de commerce), dessen Urspünge während des wirtschaftlichen Aufschwungs der Textilindustrie entstanden.


Glockentürme gibt es auch in kleineren Städten – so in Armentières 20 km westlich von Lille und einen Steinwurf von der belgischen Grenze entfernt.

Diese Grenzregion zwischen Belgien und Frankreich besticht durch ihren spröden Charme und dürfte „üblichen“ Frankreich-Touristen unbekannt sein. Allenfalls auf dem Weg nach Paris fallen die Beschilderungen Richtung Douai, Lille oder Arras auf. Der Glockenturm von Bergues (dort war ich nicht) kommt übrigens auch in dem Kino-Film „Willkommen bei den Schtiis“ vor. Dort wird der Norden Frankreichs als Strafexpedition beschrieben. Im Vergleich zum Süden, ist das Wetter eiskalt wie auf dem Nordpol und es hört nicht auf zu regnen. Dem ist aber nicht so. Als ich in Lille war, hatte ich mich geradezu in diese Stadt verliebt. Lille wird als Paris des Nordens bezeichnet. Das kann ich nur bestätigen.

Freitag, 14. September 2012

Jessie


Sie ließen es sich schmecken. Bei Pizza und Pasta trafen sie sich beim Italiener um die Ecke. Alte Klassenkameradinnen, waren sie in der Hauptschule in derselben Klasse gewesen. Sporadisch und spontan hatten sie sich verabredet, und das letzte Treffen im Winter bei knackig-kalter Kälte lag anderthalb Jahre zurück. An dem Zweiertisch am Fenster mit dem kreuzförmigen Rahmen hatten sie es sich gemütlich gemacht. In dem Aquarium vor der Wand blubberte das Wasser. Da sie sich über 30 Jahre kannten, wussten sie bestens über den anderen Bescheid.

„Der Kontrollzwang meines Mannes artet immer mehr aus. Er hat mir verboten, dass ich mich um Angelegenheiten rund ums Haus kümmere. Versicherungen, Strom, Wasser, Pläne vom Haus hat er im Heizungskeller eingeschlossen und den Schlüssel verschwinden lassen. Ich habe den Schlüssel aber gefunden und ihn nachgemacht. “

Die Ehe bestand eigentlich nur noch auf dem Papier. Begonnen hatte alles, als ihr Mann arbeitslos geworden war. Zur Untätigkeit gezwungen, tobte er sich in Haus und Garten aus. Dabei stellte er fest, dass seine Welt nie perfekt genug war. Die Regale hingen nicht haargenau im senkrechten Winkel. Die Tomatenreihen konnten noch optimaler stehen, um ein Stückchen länger von der Sonne beschienen zu werden. Die Wandflächen mussten perfekt eben sein, damit tapeziert werden konnte. Einkaufen, Kochen , Putzen, Waschen, Bügeln, nichts konnte sie ihm Recht machen. Selbst als er wieder Arbeit gefunden hatte, hörten seine Anfälle von Tobsucht nicht auf. Gemecker allenthalben, ständiger Streit um Kleinkram, auf Schritt und Tritt kontrollierte er sie. Nicht mit Fäusten, sondern verbal, mit Worten prügelte er auf sie ein. Sie sei schlampig, faul, inkompetent, eine schlechte Mutter, verschwende das Haushaltsgeld. Schrill und kreischend, redete ihre Stimme dagegen an. Ein Geschrei voller Misstöne, bei dem jeder nur noch verbal auf den anderen eindrosch.

„Wieso hast du diesen Ekel von Mann nicht längst verlassen ?“
„Vielleicht so ein letztes Stück Anne … „

Etwa sieben Jahre lang dauerte nun dieser Zustand des gegenseitigen Belauerns. Soweit es zu schaffen war, gingen sie sich aus dem Weg. Werkbank im Keller, Garten, Bücherecke, Küche, ihr Haus hatte genügend Raum, um ihr Zusammensein auf das allernötigste zu reduzieren. Dieses Geschrei voller Misstöne, das man bis in die Nachbarschaft hörte, war wohl auch Ausdruck ihres Überlebenswillens. Beklemmend, hatten die Streitereien wie eine stinkende, undefinierbare Masse ihre Spuren im Haus hinterlassen. In Schichtarbeit ging sie ihrem Job im Altenheim nach. Engagement und die Lust, anderen Menschen zu helfen, verlagerte sie in ihren Beruf.

In diesem schrecklichen Haus hatte sich jeder mit jedem verkracht. Das ständig gereizte Klima, Streit wegen Nichtigkeiten, all dies hatte sich genauso auf die Kinder übertragen. Pubertierend, begehrten sie auf, protestierten, rebellierten, brüllten ihre Eltern an, gingen notgedrungen in die Schule, schlossen sich in ihr Kinderzimmer ein, um von alledem nichts mitzubekommen. Dabei hatte sich auf diesem Schlachtfeld eine Koalition gebildet: der Vater und die kleine Tochter Anne waren so etwas wie Komplizen, die selbst einander misstrauten, die aber einte, dass sie ihrer Mutter bzw. Gattin  verabscheuten. Als Mutter hatte sie Angst, diese letzte Verbindung zu ihrer kleinen Tochter abzuschneiden.

„Hmm, schmeckt.“
„Meine Lasagne schmeckt auch vorzüglich…. „
Beide wohnten am anderen Ende des Ortes, so dass es geschehen konnte, dass sie sich monatelang im Ortszentrum nicht über den Weg liefen. Beide waren Ende 40, beide hatten einen Mann plus Kinder, die das pubertierende Alter überschritten hatten. In ihrem runden Gesicht hatten sich Falten gebildet, die etwas Geselliges hatten. Ihre roten Wangen leuchteten. Ihr kurz geschnittenes braunes Haar zeigte Andeutungen von Locken.

„Schön groß die Pizza. Lecker. Schmeckt. Der Rand ist schön kross.“
„Eigentlich bin ich gar nicht der Pizza-Fan. Pasta, Nudeln, esse ich lieber. Die Lasagne hier schmeckt besser wie die, die ich zu Hause mache.“

Die Dunkelheit hatte sich herab gesenkt. Während das matte Licht aus dem Lampenschirm unter der Decke nur mühselig herab fiel, brannten weiße, helle Flammen aus den beiden Kerzen.

„Was macht Jessie ?“
Das war ihre große Tochter, die vor einem halben Jahr volljährig geworden war. Ungefähr mit 15 kleidete sie sich nur noch schwarz, grelle Schminke, Lidschatten bis unter die Wimpern, Springerstiefel, sie rauchte, traf sich in der Gothic-Szene, hatte schnell einen Freund, war ständig unterwegs und sagte nie, wo sie war. Aufsässig wie ihre Schwester, passte sich zu Hause nicht an, machte, was sie wollte. Der Lärmpegel ihres Geschreis fügte sich nahtlos in die Streitereien der Eltern ein. Konserativ und an bürgerliches Aussehen gewöhnt, eskalierte der Streit mit dem Vater permanent. Bis sie auszog zu ihrem Freund. Daraufhin schaltete die Mutter das Jugendamt ein. Einweisung in ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche, Rückkehr in die Familie, Rausschmiss durch den Vater, eigene Wohnung.

„Wovon lebt Jessie ?“
„Hat wohl Anspruch auf Hartz IV.“
„Hast Du Kontakt zu ihr ?“
„Nur dann, wenn sie Geld braucht. Das ist häufig der Fall. Eigentlich zynisch. Auf diese Art sehen wir uns öfter. Ich muss nur aufpassen, dass mein Mann nichts davon merkt. Er hat mir verboten, ihr Geld zu geben.“
„Schule ?“
„Seit der Oberstufe geht sie nicht mehr ins Gymnasium. Sie hat aber die mittlere Reife, so dass sie auch auf Ausbildungsplatzsuche gehen könnte.“

Was dachte sie ? Dass sie gerne ihre Tochter losgelassen hätte ? – aber nicht auf diese Art und Weise. Dass sie vor einem Scherbenhaufen stand ? Dass die Hoffnung zuletzt stirbt ? Sie starrte zu der Eingangstür des Restaurants, wo Gäste das Lokal verließen und wo die Jacken an der Kleidergarderobe lichter wurden. Sie war gefasst. Wenn es ernst wurde, presste sie die Falten über ihrem Kinn zusammen.

„Was sie treibt, ist ein Stochern im Nebel. Welche Freunde sie hat. Wo sie sich den ganzen Tag herum treibt. Längst habe ich keinen Einfluss mehr. Als ich sie vor drei Wochen gesehen habe, war sie dünn wie ein Strich. Als sie fünfzehn war, hatte sie schon einmal sehr wenig gegessen. Das hatte sich aber gebessert. Nun muss sie selbst mit ihrem Essverhalten klar kommen. Was willst Du machen ?“

Sie hatte aufgegessen, schob ihren Teller beiseite, wischte sich mit der Serviette den Mund ab. Für einen Moment versteinerten sich ihre Gesichtszüge, ihre Lippen bissen sich fest, doch dann wanderte ein Lächeln hinüber. Das langstielige Glas mit der fast schwarzen Farbe des Rotweins zeichnete im Kerzenschein scharfe Linien. Sie schüttete einen großen Schluck hinunter. Danach wusste sie nicht mehr, wie ihr zumute war: ob sie lachen oder weinen sollte, ob sie mit Demut ihr Schicksal ertragen sollte oder ob sie den Aufstand proben sollte. Sie lebte im Hier und Jetzt. Sie genoss den schönen Abend. Ein Stück Inseldasein mitten in der Zerstörung. Plötzlich kam sie sich so stabil vor, dass sie selbst einem Erdbeben hätte stand halten können.

„Letzte Woche rief Jessie mich an, dass ich sie um 8 Uhr auf ihrem Handy wachklingeln sollte. Um 10 Uhr sollte sie sich beim Tierarzt wegen einer Praktikumsstelle vorstellen. Aussehen, Kleidung, habe ich ihr noch gesagt, wie sie sich anziehen solle.“
„Hat geklappt ?“
„Weiß ich nicht. Ich hatte nur ihre Mobilbox dran, als ich sie auf dem Handy angerufen hatte.“

Ihr war klar, dass der Weg zu Jessie weit und schwierig war. Immerhin war dies ein weiterer Griff, an sie heran zu kommen. Mit einem Mal war sie da, diese Hoffnung, dass die Arbeitswelt Jessie eingeholt haben könnte. Dass sie sich dieser Arbeitswelt nicht verweigern würde. Und dass sich ein Stück Horizont oder Perspektive öffnen würde. Einstweilen hatte sie zufrieden festgestellt, dass sie in diesem Moment gebraucht wurde.

Freitag, 7. September 2012

Glockenturm


Das Thema liegt fast einen Monat zurück, welches ich aufgreife. Nova hat das Projekt „Glockentürme“ ins Leben gerufen, an dem sich Blogger beteiligen können. Ich habe in unseren Urlaubsfotos gekramt und einen Glockenturm an der Costa Brava in Spanien ausgegraben. Der Ort heißt San Marti d’Empuries und liegt ca. 50 km von der französischen Grenze entfernt.


Leider habe ich keine weiteren Fotos von der Kirche gemacht. Mehr könnt ihr unter der (leider !!!) katalanisch-sprachigen Homepage nachlesen. 

Samstag, 1. September 2012

romanische Kirche in Kircheib / Westerwald

Nicht nur die großen Dome oder Kathedralen faszinieren mich. Es sind genauso die kleinen, unscheinbaren Kirchen, die am Wegesrand liegen und die man gerne übersieht. Die romanische Kirche in Kircheib liegt abseits der B8, von Baumgruppen verdeckt. Üblicherweise rauscht man über die vielbefahrene Bundesstraße vorbei. Man muss abbiegen an einer Kreuzung, wo die Autos eines Gebrauchtwagenhändlers stehen, um dieses Kleinod entdecken zu können.



Pflastersteine führen zum Eingang der Kirche.





Die Kirche imponiert gerade wegen ihres kleinen Baukörpers.




Details wie Fenster und Eingangstüre fügen sich harmonisch zusammen.

Über Wiesen öffnet sich der Blick auf die Frontseite.

In meinem Kunstführer habe ich kaum etwas nennenswertes über die Kirche nachlesen lesen können. Außer dass die Kirche romanischen Ursprungs ist und dass im Inneren ein Taufstein aus dem 13.Jahrhundert steht. Leider ist die Kirche verschlossen. Daher genieße ich von außen ihre kleine Gestalt.