Angenommen, wir hätten die Freiheit, unseren Beruf nicht nach rationalen Kriterien auszuwählen. Also: Einkommen, Karriereplanung, Attraktivität des Arbeitgebers, Sicherheit des Arbeitsplatzes, wie interessant die Tätigkeit ist oder inwieweit die Tätigkeit zu den eigenen Fähigkeiten passt, das könnten wir alles ausblenden. Wenn wir diese Kriterien beiseite schieben, dann reduziert sich die Berufswahl auf das, was den Menschen aus seinem Inneren antriebt. Völlig losgelöst, würde er dann nach seiner eigenen inneren Berufung streben. Schul- und Studienabgänger sollten sich demnach nicht auf den Arbeitsmarkt, auf Stellenangebote und auf die eigene Karriereplanung stürzen, sondern sich eher in die Rolle eines Schatzsuchers begeben, der mit einem Metalldetektor den Boden abtastet, der auf Signale horcht und voller Freude losgräbt, wenn ihn die Ahnung eines Schatzes erreicht hat.
Die Verwerfungen können im Verlaufe des Arbeitslebens gewaltig sein, wenngleich durch Vorschriften des Arbeitsschutzes, den Einsatz von technischen Hilfsmitteln und ein verschärftes Umweltbewußtsein die Arbeitsplätze an für sich humaner geworden sind. Arbeitsteilig, eingepackt in Hierarchien, mit hoch spezialisiertem Fachwissen, mit ständigem Druck auf die Aufgaben, mit hoher Flexibilität in bezug auf die Anforderungen, lenkt die Arbeitswelt den Menschen in rigide Bahnen. Im Verlauf von Jahrzehnten können die Verwerfungen riesig sein, wenn anstelle von Freude und Vorfreude bei der Schatzsuche Ernüchterung herrschen angesichts verloren gegangener Lebensträume, einem Zeitgefühl, dass sich zwischen Powerpoint-Präsentationen, Meetings und endlosen Zahlenkolonnen zerstreut hat, und einem beschämenden Gefühl der eigenen Selbstwahrnehmung.
Genau auf die Suche nach solchen Verwerfungen hatte sich der Schweizer Schriftsteller Alain de Botton in seinem Buch „Freuden und Mühen der Arbeit“ gemacht. Neben Bürowelten, globalen Wertschöpfungsketten oder einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft im Rücken des Londoner Tower begleitete er in einem Kapitel einen Berufsberater, der insolvente Firmen aufsuchte oder auf Messen präsent war. Oder Menschen gingen aus eigenem Antrieb auf ihn zu, weil sie sich beruflich umorientieren wollten. Der Berufsberater nahm sich Zeit für seine Kunden, ganz im Sinne des Psychologen Abraham Maslow, dessen Spruch er sich über die Toilette gepinnt hatte: „Zu wissen, was wir wollen, ist nicht normal, sondern das seltene und nur mühevoll zu erringende Resultat einer psychologisch recht komplexen Leistung.“
Es überraschte mich nicht, dass bei sich bei so viel Einfühlungsvermögen die Fälle häuften, dass Angestellte ihren Job kündigten, um den Neigungen nachzugehen, zu denen sie sich tatsächlich berufen fühlten. So kündigte eine 37 jährige Abteilungsleiterin in einer Steuerberatungskanzlei ihren Job, um eine Tätigkeit in einem Verein gegen Obdachlosigkeit und Wohnungsnot zu beginnen. Der Berufsberater hielt Seminare ab über das Selbstvertrauen, um den Teilnehmern zu vermitteln, wie stark sie doch waren, welche ungeahnten Kräfte in ihnen steckten und dass sie Ziele suchen sollten. Und dass sie diese verwirklichen sollten in ihrer eigenen Geschichte, in der sie selbst der Drehbuchautor waren.
In der Tat, die Aktivitäten des Berufsberaters, die Persönlichkeiten, Lebensgeschichten und die daran hängenden Arbeitswelten komplett neu definierten, könnten in einer Massenflucht ausarten. Ungefähr so wie gegen Ende des Ersten Weltkriegs, als russische und habsburgische Soldaten demoralisiert Fahnenflucht begingen, in Massen zum Feind überliefen und so zum Untergang des Zarenreiches beziehungsweise der K.u.K.-Monarchie beitrugen. Dabei habe ich noch nicht einmal all die Billig-Jobs betrachtet, die schätzungsweise aus rein ökonomischer Not – überwiegend Frauen – diese Form des Lebensunterhaltes betreibt. Der Fensterputzer, die Supermarktkassiererin, die Telefonistin, die Kunden vom Wechsel des Stromanbieters überzeugen soll, oder die Servicekraft in einer Fast-Food-Kette, werden ihren Job eher in Ausnahmefällen als Freude und Vorfreude bei einer Schatzsuche empfinden, wenn sie für wenig Geld die hohe Kunst beherrschen müssen, mit den Launen ihrer Kunden in allen Lebenslagen umzugehen.
Ich gehe davon aus, dass eine potenzielle Massenflucht zum großen Teil zu den künstlerischen Berufen einsetzen wird. Aus uns würde ein Volk von Dichtern, Denkern, Schriftstellern, Sängern, Rockmusikern, Malern, Grafikern, Fotografen, Schauspielern, Drehbuchautoren und Kabarettisten. Und natürlich Handwerkern, bei denen eine scharfe Trennlinie schon Wirklichkeit ist. Zu Hause wird mit viel Liebe und Fleiß gewerkelt, wenn Badezimmer renoviert werden, wenn tapeziert wird oder wenn Terrassen neu gestaltet werden. Am Arbeitsplatz werden die Aufgaben eher in lästiger Routine und ohne Freude abgearbeitet, wenn eine Klimaanlage in einem Großraumbüro instandgesetzt wird, wenn Fassadenelemente gestrichen werden oder eine Flachdachkonstruktion abgedichtet wird.
Aber ich denke, unser ökonomisches System hält solche Wanderungsbewegungen aus, dazu ist es zu stabil. Es verspricht Wohlstand, das hatte bereits Adam Smith in seinem wegweisenden Werk „Wealth of Nations“, das 1776 erschien, festgestellt. Er entwickelte ein Modell, in dem sich in einem Wirtschaftskreislauf der Wohlstand über Arbeitsteilung, optimaler Güterversorgung und Wachstum verbesserte.
Grundlage dafür war die Fabrikproduktion, in der Arbeitsschritte aufgeteilt wurden, Maschinen eingesetzt wurden und Tätigkeiten spezialisiert wurden. Dadurch wurde die Produktion gesteigert, die Wirtschaft wuchs, indem sie neue Absatzmärkte fand, die Einkommen stiegen. Trotz Massenverelendung in der Frühphase der industriellen Revolution, trotz Aufschwungphasen, die zwei Weltkriege nach sich zogen, trotz Klimadiskussion, die wir momentan erleben und trotz Rezessionen in den 1980er und 1990er Jahren, gelten Adam Smiths Theorien in ihren Grundsätzen bis heute. Wirtschaft ist ein Kreislauf, auf den alles einzahlt. Der Mensch wird zum Konsumenten, indem er Güter auf Märkten nachfragt. Dabei wird er zum Typ des „homo oeconomicus“, da er seinen Nutzen beim Güterkonsum maximieren will. Durch den Verbrauch entsteht wiederum Wohlstand, der auf volkswirtschaftlicher Ebene einen Gewinn abwirft. Dieser Kreis dreht sich vom Prinzip her bis heute weiter, da unsere Wirtschaft – letztlich dank Exporten in alle Welt – ungebremst wächst.
Dichter, Denker, Schriftsteller, Sänger, Rockmusiker, Maler, Grafiker, Schauspieler, Drehbuchautoren, Kabarettisten werden daher weiterhin Nischenexistenzen bleiben. Größere Aufstände wegen Verwerfungen innerhalb der Arbeitswelten sind daher nicht zu erwarten. Gleichwohl zollen die Arbeitsteilung, die nie das fertige Werk erscheinen läßt, globale Wertschöpfungsketten, die bessere Standards von Arbeits- und Umweltschutz weg verlagert, und ein Zwang zur Kosteneinsparung, der in manchen Firmen an Terrorismus grenzt, ihren Tribut.
Da die Aussteiger oder Nischenexistenzen in ihrer Anzahl sehr klein sind, sind die Auflösungstendenzen unseres ökonomischen Systems eher marginal. Wir werden daher alle weiterhin am Bruttosozialprodukt beitragen. Auch in diesem volkswirtschaftlichen Begriff lebt Adam Smith mit seinen Theorien fort, da das Bruttosozialprodukt in den 1940er Jahren als Meßzahl für den Wohlstand entwickelt wurde. Wir definieren uns über unseren Wohlstand. Wir selbst werden zum Bruttosozialprodukt, wenn wir aus dem Kreislauf des Wohlstands nicht ausbrechen können.
Es gibt sie immer wieder, diejenigen, die es wagen sich für sich selbst zu entscheiden, ab sofort das zu tun, was sie schon immer tun wollten. Traurig, die zu sehen, die, bis sie Zeit haben zu tun, was sie schon immer tun wollten, vergessen haben, was sie schon immer tun wollten. Möglichweise erreichen Viele das, was sie wollen darüber, indem sie feststellen, was sie nicht wollen!
AntwortenLöschenschönes Adventswochenende für Dich
Beate
Ein interessanter Artikel Dieter, ich würde mich heute so wie 1967 entscheiden und auch den gleichen Beruf wählen. Er hat mir immer Freude gemacht und ich habe ihn auch bis zum Ende ausgeübt.
AntwortenLöschenWünsche dir und deinen Lieben einen schönen Nikolaus und Adventwochenende
Angelika
Auch ich kann nur sagen: ein sehr interessanter und wunderbarer Beitrag. Ich habe überlegt, wer sich aus unserer Familie nicht wohl fühlt in seinem Beruf und ich kann sagen: es ist niemand und dass ist einfach wunderbar. Unsere Tochter wusste sehr genau, was sie 'werden wollte', als sie die Schule verließ und sie ging konsequent diesen Weg. Schrieb zig Bewerbungen und hatte dann sogar die Wahl, denn sie war bei zwei Unternehmen willkommen. Eine Freundin von ihr erzählte einmal, dass ihre Eltern sie in eine Banklehre gestoßen hätten, wo sie sich immer unwohl gefühlt habe. Heute macht sie etwas anderes. Es muss sehr schlimm sein für den Einzelnen, wenn er erkennt, am falschen Platz zu sein! Einen schönen 2. Advent! Martina
AntwortenLöschenein interessantes Thema. Ich denke mir oft wie schade es ist, dass so wenig nach den Fähigkeiten der Menschen geschaut wird. Ich denke mir dass jeder Mensch besondere Fähigkeiten hat.
AntwortenLöschenIch wünsche dir und deiner Familie einen schönen 2. Advent :-)
Herzliche Grüße von Heidi-Trollspecht