Man hielt sie bestimmt für Spinner. Auf Fahrrädern quer durch Frankreich. Hunderte von Kilometern am Stück. Auf Straßen, die noch halbe Feldwege waren. Bei regnerischem Wetter durch aufgeweichten Boden und Matsch. Ersatzteile organisieren, wenn über Kopfsteinpflaster Schläuche gleich reihenweise kaputt gingen. In normaler Straßenbekleidung: Schuhe mit Gamaschen, kurze Hose, Hemd und Jacke dürften segelartig im Wind geflattert haben.
1903 startete die erste Tour de France. Der Initiator und der Organisator war eine Sportzeitung, die sich dadurch eine Steigerung der Auflage erhoffte – was dann auch geschah. So wie heute, war Paris der Dreh- und Angelpunkt. Alpenpässe galt es schon zu erklimmen, 2.400 Kilometer waren insgesamt zu schaffen (heutzutage sind es 3.400 Kilometer). Neu war die Idee, die Gesamtstrecke nicht an einem Stück zu fahren, sondern in einzelnen Etappen, die dann zu einem Gesamtergebnis zusammengezählt wurden. Der Sieger Maurice Garin erzielte eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 25 km/h – was aus heutiger Sicht geradezu läppisch erscheint. 60 Rennfahrer nahmen teil, wovon 21 das Ziel in Paris erreichten. Einer von ihnen war der Belgier Marcel Kerff. 1903 sollte seine erste und letzte Tour werden, denn er war bereits 37 Jahre alt. Dabei erreichte er einen beachtlichen sechsten Platz. Wahrscheinlich war er danach in Belgien sogar so etwas wie ein Nationalheld.
Am 7. August 1914 sollte er zu einer tragischen Figur werden. Am 1. August 1914 hatte Deutschland Frankreich den Krieg erklärt, und der erste Weltkrieg hatte soeben begonnen. In einer feurigen Rede erklärte der Kaiser in Berlin, dass er nur noch Deutsche kenne. Das Volk jubelte ihm zu, die Begeisterung kannte keine Grenzen, eine überschwängliche Stimmung entlud sich.
Es galt, den Erzfeind Frankreich zu besiegen. Die deutschen Truppen sammelten sich bei Aachen. In Gemmenich in Belgien rissen die Soldaten am 4. August 1914 die ersten Schlagbäume nieder. Dass das Völkerrecht gegen die belgische Neutralität verletzt worden war, das war egal, denn Belgien war das Aufmarschgebiet gegen den großen Erzfeind im Westen. Als nächsten Meilenstein galt es, das Festungssystem von Lüttich zu erobern, das, in Beton verschanzt, mit insgesamt elf Einzel-Festungen eines der modernsten der damaligen Zeit war. Als Fußtruppen unterwegs, rechnete man in diesem Krieg noch in Tagesmärschen. Lüttich war 60 Kilometer von Aachen entfernt, also drei Tagesmärsche. Durch das Herver Land, durch den Voerstreek, durch das Maastal.
Zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen, konnten die belgischen Truppen zunächst keinen nennenswerten Widerstand mobilisieren. Anstatt dessen versuchten die Belgier aus Hinterhalten als Partisanen oder als Franc-tireur – diese Kriegsform war im deutsch-französischen Krieg 1870/71 entstanden - Widerstand zu organisieren. Die deutschen Besatzer griffen in aller Härte durch. Am 5. August 1914 kam es in den Orten Battice, Berneau und Visé zu Massenschießungen. Noch heute nennt sich die Hauptstraße von Berneau nach Visé „rue des fusillés“ (Straße der Erschossenen). Außerdem wurde die Stadt Visé angezündet und durch einen Brand vernichtet.
Merkwürdigerweise hatte Marcel Kerff von diesen schrecklichen Ereignissen kaum etwas mitbekommen. Er wohnte in Moelingen, quasi einen Steinwurf von der niederländischen Grenze entfernt. In niederländisches Gebiet waren die deutschen Truppen bislang noch nicht einmarschiert, denn sie strebten ja geradewegs auf ihren Erzfeind Frankreich zu. Daher dürfte er sich dort auch sicher gefühlt haben. All die Heckenschützen rieben sich ein Stück weiter Richtung Lüttich auf. Visé oder Berneau, das war noch 5-6 Kilometer entfernt. Auch den Brand von Visé hatte er möglicherweise nicht gesehen, da zwischen Moelingen und Visé noch ein hügeliger Ausläufer des Herver Landes verläuft. Die Truppen waren durchmarschiert, Kämpfte tobten erst weiter maasaufwärts bei Lüttich, in Moelingen, diesem verschlafenen Provinznest, gab es keine Heckenschützen.
In dieser Situation sollte ihn etwas treiben, was ihn den Kopf kosten sollte: Neugierde. Er setzte sich auf sein Fahrrad und erkundete die Umgebung. Da war jede Menge Ruhe und jede Menge Stille, so wie er sein Heimatdorf kannte. Anfang August war das Getreide geerntet, die Äpfel reiften an den Bäumen, Pflaumen lagen auf den Streuobstwiesen.
Alles war idyllisch und die Welt war in Ordnung. Trotz des ersten Weltkriegs. Mit seinem Fahrrad bog er auf die Straße von Maastricht nach Battice ein. Das Fahrrad glitt in die Ebene des Maastals hinein. Er war nicht irritiert, sondern neugierig, dass am Straßenrand eine halbe Zeltstadt aufgeschlagen war. Dazwischen schweres Gerät, Gewehre, auf dem Boden Stahlhelme.
Naiv wie ein kleines Kind, fuhr er weiter, um nachzuschauen, um sich diese Neuigkeit aus der Nähe anzusehen. Der erste deutsche Soldat, der ihn erwischte, fuhr ihm ins Gesicht.
„Moment mal …
… was macht der denn hier ????
… hat der ein ganzes Regiment von Heckenschützen im Schlepptau ???
… besser, wir gehen auf Nummer sicher …
… bevor wir vor die Hunde gehen
… machen wir ihn ALLE !!!“
So könnte ungefähr die Reaktion der deutschen Soldaten ausgesehen haben. Er wirkte verdächtig – vielleicht sogar wegen des Gefährts auf zwei Rädern, welches in dieser Kriegssituationen vollkommen fehl am Platze war.
Am 7. August 1914 erhängten sie Marcel Kerff, weil sie Angst hatten, er könnte andere Heckenschützen mobilisieren, die dann wiederum die deutschen Soldaten aus dem Hinterhalt oder in der Nacht erschießen könnten. Marcel Kerff war der falsche Mann zur falschen Zeit am falschen Ort.
An der Straße von Maastricht nach Battice haben seine Nachfahren Marcel Kerff ein Denkmal gewidmet. Ein steinernes Kreuz in der Form von Baumstämmen. Für einen Radrennfahrer der Tour de France der allerersten Stunde.