Donnerstag, 10. November 2011

Reifenwechsel

Ihr Arbeitsplatz war wie ein kleiner Kasten, dort, wo die Aufträge der Reifenwerkstatt angenommen wurden. Während die Kunden es sich im Vorraum an einem Tisch mit Stühlen und Zeitungen bequem machen konnten, quetschte sich ihr Arbeitsplatz zwischen eine brusthohe Empfangstheke und der dahinterliegenden Wand.

Vor dem Beginn der winterlichen Jahreszeit hatte ich mich entschieden, die beiden abgefahrenen Vorderreifen unseres metallic-farbenen VW Vento durch zwei neue zu ersetzen. Das Reifenprofil der beiden Hinterreifen war noch ausreichend tief, so dass dies günstiger war als vier neue Winterreifen.

Ich musste warten. Die Büroangestellte, eine Frau mit Lockenkopf im mittleren Alter, die sich ihren Stress nicht anmerken ließ, führte ein schier endloses Telefonat. Ich konnte Gesprächsfetzen heraushören: „Mindestens zwei Tage Lieferfrist …. wir können nur das Notrad montieren … jetzt ist eine Stoßzeit, in der alle ihre Winterreifen montieren lassen wollen … wir tun aber unser allerbestes, um unsere Kunden zufriedenzustellen … „. Als das Gespräch beendet war, musste ich die beiden vor mir wartenden Kunden abwarten. Beim nächsten Kunden blätterte sie schier endlos in ihrem DIA A 4-Notizblock herum, denn die Einträge, Vorbestellungen und Aufträge füllten Dutzende von Seiten. Ein PC mit Flachbildschirm stand zwar seitwärts von ihr, aber offensichtlich fand sie sich besser ihrer der Zettelwirtschaft zurecht. Der nächste Kunde merkte an: „Zwei Tage sind gut, in einer anderen Werkstatt hätte ich 14 Tage warten müssen“. Auch beim nächsten Kunden tat sie ihr bestes.

„Aha, Typ Goodyear 4 Seasons 164,“ bestätigte sie, als ich ihr meinen kleinen Notizzettel hingehalten hatte, auf dem Reifentyp und Preis in blauer Kugelschreiberschrift notiert waren. „Die Ganzjahresreifen sind da“. Gleichzeitig trat der Chef herein. Ich hatte ihn schon zuvor bewundert, wie er trotz seines massigen Körpers und seiner breiten Gestalt wie ein Wirbelwind durch die Werkstatt flitzte. Zielgerichtet schritt auf mich zu, den Notizzettel nahm er mir aus der Hand. Einsilbig deutete er mir zu: „Kommen Sie“. Wie mit dem Lineal gezogen, durchkreuzte er die Werkstatt von einem Ende zum anderen und meinte: „Nach dem Transporter“. Dabei hatte er seinen Kopf in einer knappen Bewegung zu mir zurück gedreht, wandte sich dann wieder ab und verschwand unverdrossen durch eine Türe im hinteren Teil der Werkstatt, der durch eine Wand abgetrennt war.

So stand ich da und wartete wieder. Transporter ? Tatsächlich, auf dem Parkplatz draußen entdeckte ich einen weißen 3,5-Tonner von Citroen, über dessen Seitenteile sich die blauen Schriftzüge einer Sanitärfirma erstreckten. Drinnen war auf der einen Hebebühne gerade war ein Mondeo aufgebockt. Der Kofferraum stand offen und vier Reifen in weißen Plastiktüten schauten heraus. Auf der anderen Rampe wartete ein Fiat Punto darauf, in die Höhe gewievt zu werden.

„Geben Sie mir Ihren Schlüssel ?“ tauchte unvermittelt ein hoch aufgeschossener Monteur mit kahlgeschorenem Kopf vor mir auf, nachdem der Mondeo seine vier neuen Winterreifen bekommen hatte. Ich war etwas verwundert, wieso ich meinen Autoschlüssel hergeben musste. Doch als er unseren VW Vento auf die Hebebühne bugsierte, wurde mir klar: das Manöver erforderte eine Menge Geschick und Präzision, denn die Fläche zum Drauffahren war schmal und stieg fast im Winkel von 45 Grad an. So war nun endlich unser Auto mit dem Reifenwechsel an der Reihe.

Eine zeitlang tat sich nichts, bis zwei Monteure fast so schnell wie sie gekommen waren, wieder mit den abmontierten Vorderrädern durch die Türe im hinteren Teil der Werkstatt verschwanden.

Ich erwartete, dass die Vorderreifen montiert würden, doch anstatt dessen schritt der Monteur mit dem kahlgeschorenen Kopf aus dem hinteren Teil der Werkstatt geradewegs auf mich zu und signalisierte:
 „Ihr Reifenprofil an den hinteren Reifen ist unregelmäßig. Haben Sie beim Fahren davon etwas bemerkt ?“ Ich war irritiert, beim Autofahren war mir nichts aufgefallen. „Sollten die Reifen hinten auch noch gewechselt werden ?“ fasste ich nach und dachte an eventuelle zusätzliche Kosten. „Nein, nur dann, wenn man es beim Fahren bemerkt. Sie haben ein sogenanntes Sägezahnprofil, weil die Reifen nicht einmal jährlich von vorne nach hinten und umgekehrt gewechselt worden sind.“ Das war typisch für mich, nämlich  meine Schludrigkeit, Schlamperei oder Vergesslichkeit, wenn ich an etwas denken muss und wenn etwas mit zusätzlichen Kosten verbunden ist. Normalerweise stand ich zu meiner Art, dass nicht alles haargenau und korrekt sein musste. Doch diesmal ärgerte ich mich. „Es gibt Autos, da kann dieses Sägezahnprofil ein Rubbeln oder Vibrieren erzeugen, wobei der das Wort „kann“ betonte. Man glaubt, auf den Reifen eines Traktors fahren …“ setzte er hinzu. Nein, so etwas war definitiv nicht der Fall, und ich beruhigte mich.

Wie aus dem Nichts erschienen aus dem hinteren Teil der Werkstatt wieder die Arbeiter, beladen mit zwei auf Felgen montierten und aufgepumpten Vorderreifen. Ein paar routinierte Handgriffe, herumpustend und mit metallischen Preßschlägen verrichtete der Schlagschrauber seine Arbeit. Abschließend fuhr der Monteur unseren VW Vento nach draußen und ich bekam den Schlüssel zurück.

Auf der Rückfahrt nach Hause war die Fahrt wieder ganz normal. Ruhig glitt das Auto mit seinen neuen Vorderreifen durch die Landschaft dahin. Das Sägezahnprofil war zahm, und ich dachte auch an die verausgabten 170 €, was nun ein weiteres Loch in unsere leere Haushaltskasse reißen würde.