Sonntag, 30. Juni 2013

Jesus lebt !

Der Aufschrei nach Religion erscheint in der Hilflosigkeit eines Glaskastens. Häßlich, am Rande des Bonner Lochs, führt der Weg vom Hauptbahnhof in die Fußgängerzone hinein. Der Sumpf der Drogenabhängigen hat sich zum nächsten U-Bahn-Eingang verschoben. Der Glaskasten, in dem sich lange Zeit Imbißbuden behauptet hatten, ist wie zugemüllt mit Plakaten. Sie wuchern, kleben sich wild aneinander. Religion auf Augenhöhe mit Verfall und Häßlichkeit ? Kirche, Gott, Glaube, Jesus lebt, in diesem abweisenden Umfeld wirkt der Aufschrei nach Religion deplaziert und anziehend zugleich.


Wild zusammengeklatscht, passt die Kombination nicht zusammen: Religion und Disco …


… Religion und Gothic-Szene


… inmitten der Party-Szene dürfte die Religion untergehen …


In diesem tristen Umfeld gehen die Botschaften der Bibel unter.


Aber sie appellieren …


… und zitieren die Bibel mit genauen Textstellen.


Schließlich verschwinden sie wieder zwischen den Geschäften des Alltags. Was bleibt von diesem Aufschrei der Religion ?

Freitag, 21. Juni 2013

Papa ?

Ich vertiefte mich in meine Zahlen wie in einer Klausur. Abgeschottet, lief meine Konzentration auf Hochtouren. Aus einem Gebirge von Zahlen suchte ich Kernaussagen, die einen Kern von Wahrheit beinhalteten. Ich drehte, wendete, beleuchtete das Zahlenmaterial von allen Seiten, extrahierte. Ich schärfte meinen Blick für das wesentliche.

Ich bemerkte nichts, neben unserem Bürogebäude hätte eine Bombe einschlagen können. Nichts hätte mich aus diesem fernen Zustand, in dem mich all meinen Verstand in die Waagschale schmiß, herausreißen können.

Es ist nicht nur mit zunehmendem Alter, auf Geräusche habe ich schon immer sensibel reagiert. Das Telefon klingelte in meinem Büro. Dem vernetzten Internet-Zeitalter entsprechend, riß mich das Internet-Telefon auf meinem Schreibtisch aus diesem Höchstmaß an Konzentration. Es klingelte dumpf, hartnäckig. Unbekannt verschleierte die fehlende Rufnummernanzeige den wahren Anrufer. Weil mich der Klingelton an einen schlechten Hupton erinnerte, fühlte ich mich genötigt abzuheben. Trotz fehlender Rufnummernanzeige, denn diese Anrufe sortierte ich direkt in die Kategorie „unwichtig“.

Ich hob ab, meldete mich mit meinem Namen, den ich wegen des Abbruchs meiner Phase finaler Einsichten bewußt mit meiner undeutlichen Aussprache schluderte. Immerhin signalisierte mir die fehlende Rufnummernanzeige, dass es wieder mein Chef, noch meine Abteilungsleiterin, geschweige denn unser Geschäftsführer sein konnte. Die wichtigsten Anrufe, die von meiner Göttergattin kamen, konnten es genauso wenig sein.

Als sich die Telefonleitung einige Sekunden wie tot anhörte, meldete sich mein Gesprächspartner.
„Papa ?“

Kannte ich nicht. Es war eine unsichere Jungenstimme, die sofort von der Vergänglichkeit des Augenblicks erstickt wurde. Unser Sohn war es definitiv nicht. Bei ihm wäre Frage auf Frage gefolgt, denn er hätte ein Ziel seiner Fragerei im Hinterkopf gehabt. Außerdem war die Stimme unseres Sohnes tief, die den Stimmbruch in vollem Umfang durchlaufen hatte.
„Papa ?“ hakte die Jungenstimme irritiert nach.

Das war irrational. Nicht jeder x-beliebige hatte die dienstliche Telefonnummer in meinem Büro. Ich war nicht weniger irritiert, dass sich ein Sohn meldete, der gar nicht mein Sohn sein konnte.
„Papa ?“ die Jungenstimme blieb hartnäckig. Sie klammerte sich an meiner Stimme fest und gewann an Überzeugung.
„Sind Sie nicht mein Vater ?“

Sprachlos hielt ich den Telefonhörer in der Hand. Spontan gingen mir Politiker durch den Kopf, die im Rampenlicht der Öffentlichkeit standen. In irgendwelchen dunklen Ecken verbargen sie ihre unehelichen Kinder. Beispiele gingen mir durch den Kopf: ein Horst Seehofer in einem erzkatholischen Bayern, ein Francois Mitterrand als Denkmal eines französischen Präsidenten, von Lüstlingen wie Silvio Berlusconi ganz zu schweigen. Dabei hatte ich es gar nicht nötig, in diese Kategorie eingeordnet zu werden. Ich hatte ein vollkommen reines Gewissen, kein Fremdgehen, auch keine unehelichen Kinder im Verborgenen.

Ich konnte also ein aufrechtes Telefongespräch führen, ich brauchte keine unseligen Erinnerungen an dunkle Kapitel meiner eigenen Vergangenheit zu fürchten. Ich versuchte, Licht ins Dunkel hinein zu bringen.
„Wer ist denn Dein Vater ?“ ich war mir selbst unsicher. Weniger wegen der Vaterschaft, sondern ob es richtig war, meinen Gesprächspartner zu duzen. Ein beklemmendes Schweigen entstand , mit dem unsere menschlichen Verbindungen abzureißen schienen.

„Wie heißt denn Dein Vater ?“ … „Matthias.“

Matthias saß ein Büro weiter. Ich wusste, dass er einen Sohn im jugendlichen Alter hatte. Er signalisierte, dass ich das Gespräch weiterleiten sollte. Alles klärte sich also innerhalb von Sekunden.

Wie kam sein Sohn an meine Telefonnummer ? Für seine Familie hatte mein Arbeitskollege eine Liste wichtiger Telefonnummern angefertigt. Falls er unter seiner dienstlichen Telefonnummer nicht erreichbar sein würde, hatte er Ersatz-Telefon-Nummern von mehreren Arbeitskollegen aufgelistet. Vielleicht war die dienstliche Nebenstellenanlage defekt, so dass er telefonisch nicht erreichbar war. Daher telefonierte sein Sohn die Nachbar-Büros ab – und landete bei mir.
Seine Stimme war ein ominöses Erlebnis. Meine Bedenken waren in Sekundenschnell in einer Luftblase zerplatzt. Easy livin‘. Mögen Vater und Sohn in diesem Telefongespräch miteinander klar gekommen sein.

Montag, 3. Juni 2013

das Netz

Der Auszug rückte näher, und das war gut so. Die Wohnung, die sie sechs Monate bewohnt hatte, hatte sie gedanklich bereits abgehakt. Obschon der Mietvertrag erst in drei Tagen endete, wollte sie nur noch weg von diesem Ort der Kontrolle und Willkür. Sie weigerte sich, Erinnerungen aufleben zu lassen, wie die sechs Monate verlaufen waren. Die letzten Kleinigkeiten abholen, ihr Freund hatte gestrichen und renoviert. Ihr Auto kurvte durch die Vorstadtsiedlung, die mit den Platanenreihen merkwürdig hübsch aussah. Der Kinderwagen schiebenden jungen Mutter auf dem Gehsteig schenkte sie keine Beachtung. Es war widersinnig. Lieber in einer eintönigen Mietskaserne wohnen als in dieser Vorstadt, wo zwischen den Einfamilienhäusern ausreichend Platz war. Lieber Wohnung neben Wohnung eng zusammengequetscht wohnen als hier auf lauter sauber heraus geputzte Vorgärten zu schauen.

Sie parkte in einer Seitenstraße. Die prallen Blüten von Rhododendron-Büschen wucherten über einen Jägerzaun. Sie roch die dezente Frische von gemähtem Rasen, dessen Farbe von einem hellen zu einem beschwingten Grünton wechselte.

Herein, Umzugskiste befüllen, heraus, möglichst schnell diesen unseligen Ort wieder verlassen, mehr wollte sie nicht. Sie traute ihren Augen nicht, als sie von der Straße aus zu dem rostrot verklinkerten Einfamilienhaus hinauf schaute. Über dem Balkon ihrer sechzig Quadratmeter großen Noch-Mietwohnung erkannte sie schemenhaft einen Vorhang. Was war los ? Über die Pflastersteine, die zur Haustüre gelangten, trat sie näher heran. Es war keine optische Täuschung. Jemand hatte tatsächlich über der Brüstung ihres Balkons eine Art Netz gehangen, das so aussah wie das Mittelnetz auf einem Tennisplatz. An den Seitenwänden und an der Decke befestigt, blähte sich das Netz sogar auf wie ein Tornetz beim Fußball, wenn der Wind hinein pustete.

Sie rätselte, staunte, wie sich menschliche Verhaltensweisen verirren konnten. Sie schritt über die Haustüre, Flur, Diele und Treppenaufgang zu ihrer Noch-Mietwohnung.

„Was machen Sie hier ?“
Schnauzte der Vermieter, als müsse sie zu einem Appell wie bei der Bundeswehr antreten.

Ihre Blicke kreuzten sich. Es war ohnehin gleichgültig, wie sie gekleidet war, wie sie sich gab, welches Mienenspiel sie zeigte oder wie sie auf die blasse Tapete starrte. Sie lieferte ihm stets einen Grund, sich aufzuregen. Seine eng zusammenliegenden Pupillen spuckten Gift. Er warf ihr vernichtende Blicke zu, als hätte er sie auf den Mond oder sonst wo hin gewünscht, wo er sie niemals wieder sehen würde.

Die sympathische Mieterin, die sie anfangs für ihn war, hatte sich mit ihrem Einzug in ein Feindbild verwandelt. Seine Schwiegermutter war genügsam. Zahlungsfähig, fester Job, einfach, unkompliziert, so hatten er und seine Frau sie als Nachmieterin für die Einliegerwohnung ausgewählt, nachdem seine Schwiegermutter gestorben war. Die Probleme begannen nach ihrem Einzug. Seine Frau machte Diät, und sie mochte es nicht, wenn Gerüche aus der Küche nach außen drangen. Daher mussten die Fenster beim Kochen geschlossen bleiben. Er kannte keine Geräusche mitten in der Nacht. Schlagartig wurde er wach und er hatte es notiert: regelmäßig morgens – die früheste Zeit war 5.26 Uhr – hörte er die Toilettenspülung (weil sie wegen ihrer Arbeit so früh aufstehen musste).

Für sie war dies der Horror der Kontrolle. Um 5.26 Uhr morgens durfte sie keine Toilettenspülung betätigen. Sie durfte nur bei geschlossenem Fenster kochen. Ihren Freund musste sie anweisen, geräuschlos zu kommen und genauso geräuschlos abends die Wohnung zu verlassen, ohne dass nur ein Muckser im Flur zu hören waren. Mehrere Freunde einzuladen, war schlichtweg undenkbar.

„Was wollen sie in ihrer Wohnung ?“
Bei seiner drahtigen, cholerischen, aufbrausenden, unruhigen Erscheinung hätte er sie am liebsten mit einer Handbewegung weggewischt.

„Ich wohne hier noch. Erst in drei Tagen sind Sie mich als Mieter los. Dann können Sie machen was sie wollen.“

Sie drehte den Schlüssel der Wohnungstür um, betrat die Wohnung, schleifte den Umzugskarton als lästiges Anhängsel hinein, ignorierte ihren Vermieter, der an ihr zu kleben nicht aufhörte.

Sie steuerte auf die Irrungen und Wirrungen menschlicher Verhaltensweisen, zu denen sie eine Erklärung suchte. Vergeblich, wie sich herausstellen sollte. Dissonanzen, würde man in der Musik sagen. Sie schritt auf den Balkon. Welche Bedeutung, welchen Sinn hatte das Netz ?

Der Balkon kam ihr verschleiert vor wie eine muslimische Frau, die ihre sonnige und aufreizende Seite nicht zeigen durfte und alles anstatt dessen in Verhüllung und Schleier verbergen musste.

„Und ?“
Sie zeigte auf das Netz und schüttelte den Kopf. Beide standen auf dem Balkon. Einem Tennisnetz, wie man es auf jedem Tennisplatz in Deutschland sah, war dieses Netz verblüffend ähnlich. Sie rang nach Deutung. Tornetz oder Tennisnetz, als kriegte sie keinerlei Verbindung hin zu einem Wohnen in Ruhe und Frieden, wie es eigentlich jeder Mensch anstrebte.

„Kreuz und quer stehen Ihre Pflanzen auf dem Balkon. Da ist keinerlei Ordnung erkennbar. Das kann ich niemandem zumuten. Ihre Pflanzen sollten schnellstmöglich verschwinden. Mit dem Netz habe ich es geschaftt, dieses Chaos zu verbergen.“

Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Solche Abgründe menschlicher Verhaltensweise hätte sie niemals für möglich gehalten. Als sie ihre letzten Hebseligkeiten in die Umzugskiste gepackt hatte, betrat sie niemals mehr diesen Ort. Leergeräumt, scherte sich niemand um die Übergabe. Das war schon beinahe ein Wunder, dass er mit seinem nörgelnden Charakter hätte bestimmt Mängel entdeckt