Samstag, 29. März 2014

898



… bei dem Alter dieser Kirche halte ich inne. Ich überlege. Im Rheinland fällt mir nur der Aachener Dom ein, der älter ist, denn sein Bau wurde im Jahr 796 begonnen. Alle romanischen Kirchen Kölns sind jüngeren Datums, erbaut um das Jahr 1000 oder später. Mit dem Baubeginn im 13. Jahrhundert ist der Kölner Dom ohnehin bei weitem nicht so alt. 898 wurde St. Jakob in Wachtberg-Werthhoven in einer Schenkungsurkunde erwähnt. Der Bau dieser Kirche fällt mitten in die karolingische Epoche hinein, als das Christentum zu Beginn des Mittelalters Fuß fassen konnte.




Der Kirchenbau in Wachtberg-Werthhoven, fünfzehn Kilometer südwestlich von Bonn, ist klein. Nach 898 wahrscheinlich mehrfach umgebaut, hat sie ihr kleines Aussehen erhalten, zumal die Anzahl der Christen im 9. Jahrhundert noch sehr übersichtlich war.


Leider war die Kirche verschlossen. Daher habe ich die Pietà aus dem 15. Jahrhundert sowie den Altar mit dem Patron der Kirche, dem Heiligen Jakob (links), von der Hinweistafel vor der Kirche abfotografiert.

Freitag, 28. März 2014

Küstenmacher/Seiwert - Simplify your Life


Voller Leichtigkeit, unvoreingenommen, daher schwebend, über den Dingen stehend, wer möchte so nicht durch den mit lauter Kompliziertheiten aufgeblähten Alltag schreiten ? Wenn wir ein Technik-Freak sein müssen, um uns durch Bedienungsanleitungen zu kämpfen, wenn wir ein Jura-Studium absolviert haben müssen, um die Information unserer Hausbank über die Änderung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu verstehen, oder wenn Reparaturrechnungen Unsummen verschlingen, wenn die Elektronik in unserem Auto den Geist aufgegeben hat.

„Simplify your Life“ weckt eine hohe Erwartungshaltung und der Inhalt erfüllt sie auch. Voller Leichtigkeit, daher schwebend, ist das Buch zu lesen. Vereinfachend, beginnt das Buch beim Stil. Es werden keine Fremdwörter gebraucht, der Leser wird nicht mit Querverweisen auf Geschichtsepochen, große Ereignisse, große Persönlichkeiten oder philosophische Abhandlungen belastet. Von Anfang bis Ende fließt der Stil dahin, so dass Jedermann und Jedefrau ihn verstehen kann. Davon kann auch ich als Blogger viel lernen.

Die Kernbotschaft von „Simplify your Life“ ist, dass unsere Umwelt zu aufgebläht und viel zu kompliziert ist. Uns umgibt ein Apparat von Dingen, von denen wir einen großen Teil gar nicht brauchen. Diese Kompliziertheiten haben Eingang in unsere Persönlichkeit und unser Handeln gefunden. Es gilt, diese Kompliziertheiten wieder loszuwerden, um zu unseren Grundstrukturen zurückfinden. Theologen würden dies als Katharsis bezeichnen.

„Simplify your Life“ erreicht dies über eine Pyramidenstruktur. Über Sachen, Finanzen, Zeit, Gesundheit, Beziehungen, Partnerschaft führt der Weg stufenweise zum Gipfel der Pyramide, zur eigenen Persönlichkeit, zum inneren Kern, der sich selbst vereinfacht. Die Vision des Buches, den Sinn des Lebens zu entdecken, bildet einen Spannungsbogen: als Mensch werden wir uns verändern, wir werden neue Kontinente entdecken, aus neuen Quellen der Kraft werden wir schöpfen. Wir werden uns wohlfühlen, andere werden uns lieben und schätzen. Die zentrale Behauptung, dass viele Menschen den Sinn des Lebens nicht finden, weil sie zu komplizierte Fragen stellen, finde ich schlichtweg genial. Über Dinge, Beziehungen, Partnerschaft haben sich Verhaltensweisen eingeschlichen, die wir nicht mehr hinterfragen. Manches blockiert uns, weil die dahinter liegenden Strukturen zu kompliziert sind.

„Simplify your Life“ ist keine „Katharsis“ in theologischem Sinne durch Gebet, Fasten oder Beichte, sondern ist ein komplett neuer Ansatz, der die Arbeitswelt mit zu Hause und der Freizeit verbindet. „Simplify your Life“ ist als Leitfaden oder Konzept angelegt, wie wir einfacher leben lernen können. Das ist pragmatisch, weil von unten die Alltagsnöte und Alltagsprobleme betrachtet werden. So kommen die ersten Stufen der Pyramide zustande: aufräumen, klare Strukturen im Haus schaffen, in der Arbeitswelt Konzentration auf wichtige Themen, mit den Schranken von Besitz, Geld und Zeit umgehen lernen. Das bedeutet natürlich nicht, dass eine wunderbarer Geldsegen einsetzt, damit wir uns alles leisten können. Wir müssen uns konzentrieren lernen auf unsere wirklichen Bedürfnisse und nicht auf das, was uns von außen eingeredet wird. Diese sind oftmals frei von wirtschaftlichen Zwängen.

Stark sind die Kapitel über den Neid und über den Ärger. Neid ist als Gefühl negativ belegt; oft sind es Dinge, die sich andere leisten, die Neid erzeugen, und die man ihnen nicht gönnt. „Simplify your Life“ dreht den Blickwinkel um. Dass nämlich andere hart dafür arbeiten mussten, um sich diese Dinge zu leisten. Wären wir selbst bereit gewesen, diesen Zeitaufwand zu investieren ? Wofür investieren wir selbst Zeitaufwand ? Wenn  wir nur investieren und kein Ergebnis zu sehen ist, ist die Zeit vergeudet. Wenn die investierte Zeit einen Nutzen gebracht hat, sollten wir ihn  auch erkennen und auf die selbst erreichten Ziele stolz sein. Neid kann genauso ein Indiz sein, dass wir unsere eigenen kreativen Potenziale nicht ausleben.

Wenn wir uns ärgern, sind es oft unsere Mitmenschen, über die wir uns ärgern. „Simplify your Life“ dreht hier genauso den Blickwinkel um. Wir ärgern uns über Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen unserer Mitmenschen. Daher entwerfen wir von unseren Mitmenschen ein Bild, wie sie sein sollten, um unseren Vorstellungen zu entsprechen.

Wollen wir dies ? Als gestandener Mittfünfziger habe ich meine Probleme damit, wenn ich mich verbiegen soll, um so zu sein, wie andere es haben wollen. Auf meiner Bücherliste, was ich gerne lesen möchte, schiebe ich zwei Bücher vor mir her, die genau in diese Richtung gehen: „Dürfen wir so sein, wie wir sind ?“ von Jürgen Wiebicke und „Du sollst nicht funktionieren“ von Ariane von Schirach.  „Simplify your Life“ plaziert dazu die zentrale Botschaft: „Du sollst nicht über Deinen Mitmenschen urteilen“. Zudem sind solche Urteile meist negativ belegt, dass wir anfangen herum zu nörgeln, wie schlecht die anderen sind und dass sie nur noch Laster kennen und keine Tugenden.

Der schwierigste Balance-Akt in diesem Buch ist das Thema Partnerschaft. Die gesellschaftlichen Rollen von Mann und Frau befinden sich in einem historischen Umbruch, Mann und Frau bewegen sich längst auf Augenhöhe, Mann und Frau wollen gegenseitig alles: Erfolg im Beruf, viel Freizeit, materielle Unabhängigkeit, erfüllte Sexualität, lebenslange Verliebtheit, wunderbare Kinder … Noch nie war die Partnerschaft so überfordert wie heute. Nichts geht ohne den Partner, viel miteinander reden, geben und nehmen, den anderen verstehen: auf 26 Seiten versucht „Simplify your Life“, das Thema Partnerschaft in einfache Bahnen zu lenken, worüber ansonsten massenweise Bücher geschrieben worden sind. Diese 26 Seiten werden an ihre Grenzen stoßen, da manche Partnerschaften komplett anders gestrickt sind.

Voller Leichtigkeit, unvoreingenommen, daher schwebend, über den Dingen stehend, liest sich „Simplify your Life“ bis zum Schluß. Dort wird der innere Wesenskern der eigenen Persönlichkeit erreicht. Diese Sichtweise ist neu und befreiend. Alleine durch das Lesen des Buches sind mir diverse Alltagszwänge, die wir nicht näher hinterfragen, bewusst geworden.

„Simplify your Life“ setzt auf Tipps, Methoden, Alltagssituationen auf. Das ist das schöne an diesem Buch, dass es so praxisorientiert ist, dass wir sofort damit beginnen können. Denn die meisten Menschen verschwenden zu viel Zeit auf den Wunsch, das Leben solle anders sein als es ist.

Montag, 24. März 2014

Formlos (7) - Begegnung mit einem Hund

Friseurtermin. Zehn Minuten war ich zu früh – das war eher ungewöhnlich. Ich hockte mich hin, machte es mir auf dem Sitzelement aus Leder gemütlich. Die Blätter der Boulevardpresse, die sich auf der linken Seite stapelten,  ließ ich unbeachtet. Die schwere Eingangstüre war in ihren Eisenrahmen zurückgefallen. Ein Stimmengewirr kämpfte gegen einen Föhn, der aus Leibeskräften pustete, und Friseuse und Kundin schafften es irgendwie, sich zu entwirren und sich gegen die Lautstärke miteinander zu verständigen. Haare standen zu Berge und fügten sich danach in die Kunst einer Frisur mit wohl geformten Proportionen und einer vollendeten Schönheit, die beide, die Kundin und die Friseuse, mit einem zufriedenen Lächeln registrierten, als das Meisterwerk fertig war.

Ich beobachtete, nutzte den Freiraum, um die Fingerfertigkeit zu bestaunen, was Friseure tagtäglich leisten. Ihre Arbeit hatte objektiv einen Wert, und sie wussten, was sie mit ihrem Stehvermögen und mit ihrer Schere in der Hand am Ende des Tages geleistet hatten.  

Nebenher bemerkte ich, wie sich zwei Pfoten auf der Kante des Ledersitzes vorwärts tasteten. Schüchtern verharrten die Tatzen auf der Stelle, ein Kopf streckte sich in die Höhe, zwei Hundeaugen schauten mich voller Sehnsucht an. Sie durchbohrten mich mit ihrem Blick, so sehr hatten sie sich an meiner sitzenden Gestalt fest gehakt. Ich rätselte, war voller Skepsis, wusste nicht, ob ich hinschauen sollte, denn ich war auf Katzen gepolt und nicht auf Hunde.

Eine Katze hatte sich bei meinen Eltern stets zu Hause gefühlt. Über mehrere Jahrzehnte haben wechselnde Katzen meine Schwiegereltern begleitet. Nach langem Werben unseres kleinen Mädchens haben wir es seit einem Jahr geschafft, dass wir stolze Besitzer einer Katze und eines Katers sind. Das gibt unserem Leben einen zusätzlichen Schub an Lebensfreude, wenn sich unser Kater abends auf meinen Schoß setzt, wenn ich sein samtweiches Fell streichele, wenn er schnurrt, als ob er einen Motor einschalten würde, und wenn er wohlwollend seinen Schädel gegen meine streichelnde Hand reibt.

Nun also ein Hund. Mit Rassen kenne ich mich überhaupt nicht aus. Das war ein Pudel im Kleinformat. Die Ohren waren rund und hingen nicht herab. Das Fell war weiß, mager und lückenhaft, so als wäre ihm ein Stück  geklaut worden. Oder es war eine Katze im Großformat. Nase, Mund und Ohren lagen dicht beisammen, und der Körper war vielleicht doppelt so groß wie eine Katze.

Der Fehler im nächsten Moment war fatal, denn ich behandelte diesen Hund, der vor sich her schlummerte und wartete, dass etwas geschah, wie eine Katze. Ich streichelte sein Fell. Das hatte mit dem Fell einer Katze ungefähr so viel zu tun wie Helene Fischer mit AC/DC oder der TuS Königswinter-Oberpleis mit der Ersten Fußball-Bundesliga. Ich griff in eine gebürstete Masse hinein, die sich sträubte. Meine Hand rutschte über das Fell hinweg, und in diesem Moment verhielt sich der Hund sogar wie unser Kater, denn er sprang auf meinen Schoß, wie durch fremde Geisterhand gesteuert.

Er äußerte sogar sein Wohlbefinden, schnupperte, fing an zu lecken, genau in mein Gesicht hinein. Er fuhr nicht seine Krallen aus – so wie ich es von unseren Katzen kannte – denn er besaß keine. Was unseren Katzen die Krallen bedeuteten, das waren seine Zähne. Sein Mund öffnete sich, und stolz bleckte er sein Gebiß entgegen. In Zacken formierten sich seine Zähne nebeneinander, vier Augen standen sich frontal gegenüber.

Ich spürte Angriffslust in den schwarz getünchten Pupillen. Ich bin an Katzen gewöhnt. Mit Hunden verbinde ich einige negative Erlebnisse. Meine erste Freundin hatte einen winzigen Rehpincher, der mich permanent anbellte, so dass wir uns kaum unterhalten konnten. Viele Jahre später, lief mir beim Joggen ein Hund hartnäckig hinterher und zerriss mit seinem Gebiß meinen Trainingsanzug. Es stört mich heutzutage, wenn sich zwei Hunde begegnen und dann endlos und laut anbellen.

Seine Zähne bissen zu. Entschlossen, aber auch verspielt. Zuerst bissen sie sich zwischen meinen Fingern fest, kauten darauf herum, als wollten sie eine Wurst verspeisen. Die Bisse wurden härter, schmerzten aber nicht und wichen zurück. Ich war entsetzt. Weil ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte, kraulte ich vor lauter Verlegenheit seine schlappe Haut, die sein Fell sein sollte.

Der Hund hatte sich auf meinem Schoß eingenistet und knabberte an mir herum. Seine Zähne bissen in das hinein, was ihnen in die Quere kam. Nun war mein Pullover an der Reihe. Das Gebiß fraß sich in das rot-weiß-graue Muster hinein, drehte den Kopf nach oben, die Zähne rissen zwischen den Fäden des Pullovers herum. Das reichte. In diesem Moment hätte ich diese doppelte Katzengröße, die ein wild herum fressendes Monster war, in die Hölle gewünscht.

„Platz“ erlöste mich die Chefin des Friseur-Salons, die erst jetzt mitbekommen hatte, dass das Treiben ihres Vierbeiners eskalierte.

Der Hund gehorchte. Augenblicklich sprang er auf den Bistrot-Stuhl, blickte schüchtern wie ein Unschuldslamm und hockte sich auf seine Hinterpfoten. Der Schreckensmoment war verflogen, und nun sah er wieder so treu und so streichel-bedürftig wie unsere Katzen aus.

„Sie dürfen nicht anfangen, ihn zu streicheln. Dann werden Sie ihn nicht wieder los. Entschuldigung. Habe einen Moment nicht aufgepasst.“

Die Aufregung war vorüber. Wenn ich tiefere Einblicke in Vierbeiner habe, dann sind es Katzen. Und nicht Hunde.

Donnerstag, 20. März 2014

Selfkant 1949

Parallelen zur Krim gibt es nicht. Aber die Ereignisse auf der Krim haben mir den Anstoß gegeben, dass  wir so etwas auch im Rheinland hatten: eine Annexion deutscher Gebiete, sogar noch viel undemokratischer, ohne dass die betroffenen Einwohner das Recht hatten, auf einem Zettel ein Kreuzchen zu machen, zu welchem Staat sie denn gehören wollten.

Vorangekündigt und von den Alliierten gebilligt, marschierte die „Koninglijke Maréchaussée“, das war die Niederländische Militärpolizei, ein. Das mussten höchst merkwürdige Szenen gewesen sein, wie Jeeps in die Straßen eindrangen, wie die Militärpolizei mit Gewehren patrouillierte, wie sie deutsches Staatsgebiet besetzte und wie die eingeschüchterte Bevölkerung zum Schweigen verdammt war. Unglaubliches spielte sich im Rheinland ab, am 29. April 1949. Militärische Gewalt des Nachbarstaates setzte sich in der Gemeinde Selfkant durch, das sind zehn Dörfer in der äußersten westlichen Ecke unserer Republik, rund dreißig Kilometer nördlich von Aachen.

Formal und in der Sache hatte dies sogar seine Ordnung. Wie in so vielen anderen Staaten, hatten die Nationalsozialisten die Niederlande mit den Schrecken des Zweiten Weltkrieges überzogen. Sie hatten nicht nur Städte wie Rotterdam bombardiert und dem Erdboden gleich gemacht, sondern sogar in s’Hertogenbosch ein eigenes Konzentrationslager gebaut, um den Völkermord an den Juden zu perfektionieren.

Die Niederlande wollten Wiedergutmachung und sich auf Augenhöhe mit den übrigen Siegermächten bewegen. Frankreich erhielt Elsaß und Lothringen zurück, zusätzlich sogar das Saarland. Daraufhin formulierten die Niederlande ihre eigenen Entschädigungsansprüche: die Städte Osnabrück und Oldenburg sollten eine Niederländische Exklave in deutschem Staatsterritorium werden. Doch den Alliierten war dies eine Nummer zu groß. Sie strichen die Niederländischen Ansprüche zusammen. Klein- und Kleinstgebiete blieben übrig, damit es nicht den Anschein haben könnte, sie hätten diese Ansprüche ignoriert. Auf dem grünen Tisch, mit geschärftem Blick auf die Landkarte, zwackten sie den „Katzenkopf“ ab. So nannten die Selfkanter selbst den Zipfel ihres Gemeindegebietes, welches in die Niederländische Landkarte hinein ragte. Außer dem Selfkant war es noch Elten nördlich von Emmerich und Suderwick im Kreis Borken. Die 69 Quadratkilometer deutsches Staatsgebiet, die wegfielen, konnten somit vernachlässigt werden.

So marschierte am 29. April 1949 die „Koninglijke Maréchaussée“ in den Selfkant ein. Tüddern, das war der Standort der deutschen Gemeindeverwaltung, wurde zum „Drostambt“ umgeschwenkt, das war die Niederländische Mandatsverwaltung. Dort wurde die Niederländische Flagge gehisst und in den Empfangsräumen ein Porträt der Niederländischen Königin aufgehängt. Die Selfkanter argwohnten schlimmes, denn bald durften sie die Mandatsverwaltung aufsuchen: ihre Pässe mussten sie ergänzen lassen, denn ihre deutsche Staatsangehörigkeit wurde mit blumigen Worten umschrieben: „wordt behandeld als Nederlander“. Die Zollkontrollen mit dem Schlagbaum wurden rund sechs Kilometer nach Osten verlegt. Das war noch weit in der Zeitrechnung vor dem Schengener Abkommen. „Strippen“, so nannten die Deutschen jenseits der Grenze in Gangelt, Waldfeucht, Geilenkirchen oder Heinsberg die Grenzkontrollen. Der Niederländische Zoll hatte einen eigenen Raum für Leibeskontrollen. Bei der Einreise nach Deutschland wurde der Körper abgetastet, ob nicht ein paar Schachteln Zigaretten oder ein Paket Kaffee eingekauft worden war.

D-Mark und Pfennig waren Vergangenheit. Anstatt dessen mussten die Selfkanter mit Gulden und Cent bezahlen. Nordrhein-Westfalen war genauso Vergangenheit. „Welkom in de Provincie Limburg“ begrüßten einen Schilder mit dem Landeswappen des Löwen des alten Herzogtums Limburg, wenn Deutsche hinter dem Schlagbaum in den Selfkant fuhren. Lehrer aus der Provinz Limburg wechselten umgekehrt in den Selfkant, um neben der deutschen die Niederländische Sprache in den Schulen zu unterrichten.

Die Selfkanter nahmen dies gelassen hin. Auf der Ebene des Dialektes verstand man sich ohnehin, denn Selfkanter Platt und Limburger Dialekt in Sittard oder Brunssum gehen fließend ineinander über. Die Selfkanter standen sich sogar besser, was Instandsetzungen der Infrastruktur betraf. Die Kriegszerstörungen waren in den Niederlanden eher gering, so dass Gelder zur Instandsetzung von Straßen und öffentlichen Gebäuden rasch flossen. Die Niederländer beherzigten die humanistischen Ideale des Erasmus von Rotterdam. Sie waren tolerant, respektierten die deutsche Bevölkerung, und Deutsche und Niederländer hatten im Selfkant nie Probleme damit, miteinander umzugehen.

Überraschendes tat sich dann am 1. August 1963. Die Niederlande und Deutschland hatten sich darauf geeinigt, dass der Selfkant (genauso wie Elten und Suderwick) gegen eine Zahlung von 280 Millionen D-Mark nach Deutschland zurückkehrten.

Das war weniger überraschend für Deutsche und Niederländer, denn diese verstanden sich im „Katzenkopf“ sowieso bestens, sondern für den Zoll. Häuser, Scheunen, Säle, Lager, kurzum, alles, was Platz hatte, wurde mit Waren vollgestopft. Ganze Kaffeeplantagen, Teeplantagen und Tabakplantagen, dazu Schnaps, wurden dorthin geschafft. Händler deckten sich mit der Ware ein, die in den Niederlanden weitaus niedriger besteuert wurde. Ganze LKW-Züge warteten mit Eiern oder Gurken, bis die Grenze fiel. Der Schmuggel war perfekt, als vom 31. Juli auf den 1. August ganz einfach das Staatsgebiet wechselte. Ohne die Ware bewegen zu müssen, stieg ihr Wert um ein Vielfaches.

Der Schaden wurde damals auf 60 Millionen DM geschätzt. Zum Glück für die Schmuggler, schaffte der Gesetzgeber es nicht, die Abgabenordnung zu ändern. Die Mühlen der Gesetzgebung mahlten langsam. Am 23. Juli 1963 wurde im Bundestag eine Rechtsverordnung zur Nacherhebung von Verbrauchssteuern und Zoll verabschiedet. Vorschriften zu Verbrauchssteuern und Zoll sind aber Ländersache und müssen von diesen umgesetzt werden. Danach drehten sich die Diskussionen zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen und dem Bund im Kreis, ohne dass sie zu einem Ergebnis führten. So lange, bis der 1. August verstrichen war.

Samstag, 8. März 2014

St. Pankratius in Königswinter-Oberpleis - Darstellung des Kosmos

St. Pankratius Oberpleis
Die Suche nach den letzten Dingen treibt wohl jeden Menschen an. Wo kommen wir her ? Wo gehen wir hin ? Wer sind wir ? Seitdem es die Menschheit gibt, hat sich diese darüber den Kopf zerbrochen. Im Christentum ist der Ursprung aller Dinge Gott. In der Antike – bei den Ägyptern, den Griechen oder den Römern – war es eine Vielzahl von Göttern. Philosophen wie Aristoteles definierten den Ursprung aller Dinge anders. Hinter der sichtbaren Gestalt der Dinge sahen sie einen Kern, der alle Dinge auf eine gemeinsamen Wesensgestalt zurückführte. Diese Wesensgestalt musste nicht zwingend ein Gott sein.

Ich staune, was es in unserer Gegend alles zu sehen gibt. Im Rücken des Siebengebirges fällt das Gelände steil ab. Vielleicht inspiriert durch die opulenten Formen des Siebengebirges, haben die Menschen darüber nachgedacht und Darstellungsformen gefunden, wie sich der Mensch und die Welt zueinander verhalten. Der Denkansatz stammt aus dem Mittelalter, greift aber auf die Antike zurück.

Es ist ein Tonfliesenmosaik aus dem 13. Jahrhundert in der Kirche St. Pankratius in Königswinter-Oberpleis, das 1974 bei Renovierungsarbeiten 80 Zentimeter unter dem Fußboden entdeckt wurde, als dieser aufgestemmt wurde. Rund ein Drittel der weiß-grau-blauen Fliesen wurde von 1210 bis 1230 verlegt, sie fügen sich zu einer Darstellung des Kosmos zusammen, die übrigen zwei Drittel ergänzten die Archäologen, fußend auf Weltbildern, die die Menschen seit der Antike entwickelt haben.

Krypta, Marienalter, romanischer Taufstein, Jesus am Kreuz, das Tonfliesenmosaik will als Darstellung des Kosmos in der Kirche St. Pankratius in Oberpleis nicht so Recht in die übrige religiöse Innenausstattung hinein passen.

Tonfliesenmosaik Oberpleis
Solange es die Menschheit gibt, haben sich Denker über Ordnung, Struktur, Geometrie und Ursprung der Welt den Kopf zerbrochen. Schon die Ägypter zeichneten Mond, Sterne und andere Planeten als astronomischen Raum um die Erde herum. Im 4. Jahrhundert vor Christus entwarf Aristoteles ein Weltbild, das bereits dem Tonfliesenboden in Oberpleis in den Grundstrukturen ähnlich war. Die Erde stand im Zentrum, und sie umgab ein konzentrischer Ring von 12 Kreisen. Die ersten vier Kreise waren die Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer, die übrigen acht Kreise waren für Sonne plus die damals bekannten 7 Planeten vorgesehen.

In Oberpleis können die 12 Kreise aus der Religiösität des Hochmittelalters gedeutet werden. Gott ist der Ursprung allen Seins, symbolisiert durch die Sonne als Zentrum der 12 Kreise. Um den Ursprung herum, unterschieden sich Kreise mit dreieckigen Fliesen, die 7 Kreise ergeben, und Kreise mit viereckigen Fliesen, die 4 Kreise ergeben. Die Zahl 12 kann die 12 Monate oder 12 Tierkreiszeichen darstellen, die Zahl 7 die 7 Tage der Schöpfung oder die 7 Planeten, die Zahl 4 die 4 Wochen oder 4 Jahreszeiten oder auch die 4 Elemente des Aristoteles.

Das Tonfliesenmosaik in Oberpleis unterscheidet sich von den Darstellungen des Kosmos in der Antike, da es in den vier Ecken um weitere, kleine Kreise ergänzt wurde. Diese kleinen Kreise verknüpfen mit ihren Aufschriften und Symbolen vier Himmelsrichtungen mit vier Jahreszeiten und vier menschlichen Charaktereigenschaften:

Nordosten = Frühling = Sanguiniker
Nordwesten = Winter = Phlegmatiker
Südwesten = Herbst = Melancholiker
Südosten = Sommer = Choleriker

Kosmos-Darstellung Isidor von Sevilla
Die Spuren dieser kleinen Kreise, die den antiken Darstellungen noch nicht hinzugefügt worden sind, führen nach Spanien. Das Wissen von Ägyptern, Griechen und Römern hatte sich im Mittelmeerraum gesammelt. Durch den Untergang des west-römischen Reiches, durch die Völkerwanderung und den Einfall von Hunnen, Wandalen, Normannen und Wikingern drohte dieses Wissen verloren zu gehen. Gelehrte, Geistliche und später Klöster schrieben Schriften aus der Antike ab, um dieses Wissen zu erhalten.

Einer dieser Geistlichen war Isidor von Sevilla, der 636 in Sevilla starb. In seinen Schriften findet sich eine Darstellung des Kosmos, in der dieselben Grundeinheiten von mundus (Welt), annus (Jahr) und homo (Mensch) stehen. Dieselben Begriffe der Charaktereigenschaften „sanguina“, „phlegma“, „melancolia“ und „cholera“ finden sich sowohl bei Isidor von Sevilla, sondern auch in Oberpleis.

Wo kommen wir her ? Wo gehen wir hin ? Wer sind wir ? In Oberpleis habe ich erstaunliches dazu gelernt. Die Hügel werden schlapper, und das Hinterland des Siebengebirges habe ich bislang wenig beachtet. Im schützenden Tal der Pleis bin ich den letzten Dingen auf den Grund gegangen.

Samstag, 1. März 2014

Toto - St. George and the Dragon


Ich musste in meinem Gedächtnis herum kramen, um Mythologie in der Rockmusik zu entdecken. Das erste Beispiel, die Gruppe Eloy aus Hannover, dürfte kaum jemand kennen. „Poseidon’s Creation“, das 1975 entstand, ging mit dem Gott des Meeres in die griechische Mythologie zurück. Bekannter dürfte Chris de Burgh mit „Don’t pay the Ferryman“ sein, der sich genauso an die griechische Mythologie anlehnte. Diesmal war es der Fährmann, der bezahlt werden musste, um den Fluss Styx in der Unterwelt zu überqueren. Mit Toto reisen wir nun ins Mittelalter.

St. Georg, Köln, Innenraum
1978 entstand das Stück, in dem Toto den Drachenkampf des Heiligen Georg besingen. Sie vermischen diesen Kampf mit der griechischen Mythologie, indem sie die „Hydra“, diese Schlange, der die Köpfe nachwachsen, wenn man einen abschlägt, ins Spiel bringen und dann noch den Satan hinzufügen. Das sind jede Menge Mythen auf einmal. Sie singen:

Can you tell me where I might find the Hydra? 
Is he wearing a familiar face? 
Does he still live below Seventh Avenue 
In the slums of Satan's grace? 

I can tell by the look in your eye 
You've never seen the man with nothing to say 
I can tell by the look in your eye 
You'd better watch yourself, St. George is on his way”

Als sich die Legenden um den Heiligen Georg bildeten, war es nicht alleine der Drachenkampf. Wie sonst im Mittelalter, dachten die Menschen in Zeichen und Symbolen. Die Legenden wurden so gedeutet, dass ein Drache das Böse verkörperte. Ein Kampf gegen den Drachen war gleichzeitig ein Kampf gegen das Böse in sich selbst („Satan“ bei Toto). Die Hydra als Schlange mit den nachwachsenden Köpfen kann genauso als Sinnbild des Bösen verstanden werden.

Die Georgslegende entstand im Mittelalter, als Heilige als Schutzpatrone in entscheidenden Schlachten zu Hilfe gerufen wurden. Bei den Schlachten gegen die Mauren auf der iberischen Halbinsel war es der Heilige Jakobus, bei der Schlacht auf dem Lechfeld gegen die Ungarn war es der Heilige Michael, bei den Kreuzzügen im 11. Jahrhundert war es der Heilige Georg. Zum Heiligen wurde Georg bereits 8 Jahrhunderte früher, als er als Christ unter Kaiser Diokletian verfolgt und getötet wurde.

Georgskreuz
So entwickelte sich die Georgslegende ab dem 12. Jahrhundert. Der Heilige George war Beschützer der Kreuzzugsritten, und wenn die Ritter zurückkehrten, rankten sich Mythen und Legenden. Die Ritter kämpften gegen Löwen, sie befreiten Prinzessinnen und sie kämpften gegen Drachen. Ab dem 13. Jahrhundert – so im Schloss Neuhaus oder der Burg Karlstein in Böhmen oder der Nicolaikirche in Stockholm – verdichteten sich die Darstellungen, so dass der Heilige Georg nur noch als Drachentöter auftrat.

Die Suche nach dem Drachentöter war nicht einfach. Nicht unweit vom Einkaufstrubel der Hohen Straße und der Nord-Süd-Fahrt in Köln, kam ich zufällig kam ich an der Romanischen Kirche St. Georg vorbei. Dort musste doch der Drachenkampf zu finden sein ! Also hinein. Durch die Vorhalle aus der Renaissance, trat ich in den Innenraum der Kirche. Die Kirche machte es mir schwer, den Heiligen Georg zu entdecken, denn St. Georg war durch einen Bombenangriff am 2. März 1945 fast vollständig zerstört worden. Nur die Krypta blieb unzerstört, wohin glücklicherweise einige Kunstgegenstände gerettet werden konnten.

Aus den Ruinen hat man die Säulenbasilika aus dem 11. Jahrhundert wieder aufgebaut. Die Epoche passt, denn das war das Zeitalter der Kreuzzüge. Genau 1067 wurde die Kirche dem Heiligen Georg geweiht. Ich war beeindruckt von den tragenden Säulen, wie hoch der Kirchenraum trotz des romanischen Baustils war, wie großzügig das Langhaus war, obschon die Kirche von außen so klein aussah.

Triyptychon
Das Georgs-Kreuz über dem Altar. Es ist eine Kopie des Originals aus dem Jahr 1067, das als Torso erhalten ist und sich im Museum Schnütgen befindet. Der herabhängende Körper am Kreuz beeindruckt, aber kein Drachenkampf. Dann begegnete mir der Heilige Georg auf dem Triptychon in der Seitennische. 1558 von Barthel Bruyn gemalt, schreitet auf der rechten Seite des Triptychons der Heilige Georg voran. In Rüstung und zum Kampf bereit, hat er sein Schwert gezogen. Immer noch kein Drachenkampf. Ich musste mich in moderne Formen hineindenken, geschuldet den Kriegszerstörungen. 

Der Drachenkampf findet sich in einem der Kirchenfenster, die in der Nachkriegszeit neu gestaltet wurden. Ich musste genau hinsehen, wie sich in der unteren Hälfte  ein Drache nach oben reckte. Den Mund mit seinen spitzen Zähne geöffnet, stand der dem Heiligen Georg gegenüber.

Vorsichtig, in angemessener Entfernung, wartet der Heilige Georg ab.

„Does he know that I'm a soldier of fortune
And not a victim of circumstance?
We drew lots for his soft underbelly
Now his fate is sealed with my lance …“

so singen Toto. Das habe ich auf dem Triptychon gelernt, dass der Heilige Georg in seinem Herzen ein Krieger war.

Kirchenfenster mit dem Drachenkampf