Donnerstag, 26. April 2012

der Selbstmord des Lieven Deflandre


Auf der Seite meines Blog-Freundes Pascaldigital aus Belgien habe ich gelesen, dass sein Facebook-Freund Lieven Deflandre gestorben ist.

Für Pascaldigital war es eine der Facebook-Freundschaften, was für mich Blog-Freundschaften sind: in der virtuellen Dimension des Netzes, ohne persönlichen Kontakt, man schreibt sich Posts hin und her. Im Netz ergeben sich Puzzle-Stücke der Persönlichkeit, doch letztlich versteckt man sich in der Anonymität.

Lieven Deflandre war nicht einmal sein richtiger Name, sondern sein Pseudonym. Der Tod eines Pseudonyms ? Lieven lebte alleine in einem Appartement in Gent. Da sein Appartement seit November 2011 renoviert wurde, musste er in eine Baracke mit schlechter Wohnqualität umziehen.

Lievens letzter Facebookeintrag datiert vom 13. Februar. Nachdem Posts von Facebookfreunden, die er danach erhielt, unbeantwortet blieben, meldete sich am 8. März erstmals eine Facebook-Freundin, was mit ihm los sei und dass er über Facebook ein Lebenszeichen von sich geben wollte. Am 2. April wurde er schließlich tot in seiner Ausweich-Baracke aufgefunden. Er hatte Selbstmord begangen.

Lieven Deflandre hieß eigentlich Lieven Vromman. Da er weitestgehend seine Kontakte über Facebook pflegte, luden seine Geschwister alle Facebook-Freunde zum Begräbnis mit anschließendem Umtrunk ein. Dort fanden sich eine Reihe von Facebook-Freunden zusammen (unter ihnen Pascaldigital), und im Nachgang, erst durch Lievens Tod, lernten sie sich in der Anonymität des Facebook-Daseins kennen. Seine Texte, die er geschrieben hatte, wurden vorgelesen. Seine gemalten Bilder wurden gezeigt. Musik, die er gerne gehört hatte, wurde gespielt. Darunter war jede Menge spanische Musik, denn er war leidenschaftlich gerne nach Spanien gereist. Einige Facebook-Einträge sind auch vollständig in Spanisch geschrieben.

Lievens Grundstimmung ist pessimistisch, und an mehreren Stellen dringt sein Hang zur Depression durch.

Trotzig, zynisch, treffsicher, intelligent und stilistisch anspruchsvoll sind seine Einträge in Facebook. Hier ist eine Auswahl:

„Lieven geht in die schlafende, zerfallende, im Koma liegende Stadt auf der Suche nach einer Lackiererei, die offen ist auf diesem elenden Tag, auf der Suche nach schwarzer Farbe um seinen dunkelsten Albträumen Gestalt zu geben …“

„Kein Mensch ist intelligent genug, um seiner eigenen Dummheit zu entkommen …“

„Vergebung ist eine richtige Tugend für das christliche Volk. Nihilisten verziehennie und vergessen nichts. Sie sind glühend heiß vor ihrem ewigen Feinde… „

„Die Welt ist hübsch, das Leben ist schön, aber alles ist schade wegen all den langweiligen Menschen, die einem über den Weg laufen … „

Ab und zu ging Lieven in einem Eck-Café ein Bier trinken. Dort hatte er sich darüber beklagt, dass es „überlief von Schamanen, die ihre Seele in der Toilette verloren und nach fünf Stunden ein bewusstseinserweiterndes Gift – genannt Jupiler (belgische Biersorte) – ausgekotzt hatten, um sich selbst und ihre schwache Seele zu reinigen.“

Einer seiner letzten Facebook-Einträge war, dass Dichter eine der schwersten Berufe der Welt ist und ein ständiges Gefecht mit der Sprache, einer Pistole und einer Flasche Bier. Ein wenig denke ich dabei an Hemingway, der depressiv war und vor lauter Angst vor Einfallslosigkeit und Erfolgslosigkeit schließlich Selbstmord beging.

Am 2. April wurde Lieven tot in seiner Baracke aufgefunden.

Ruhe in Frieden !