Ihre Gesichtszüge waren tief zerfurcht von Falten, ihre Haare waren in Büscheln zerzaust, ihre noch dominierende schwarze Haarfarbe schaffte es einigermaßen, ihren fortschreitenden Altersprozess aufzuhalten. Ihre Augen hatten sich tief in den Schädel eingegraben, ihre Gesichtsform war beinahe oval. Der aufrechte Gang behauptete sich gegen ihre müde Gestalt. Sie mochte glatte zehn Jahre älter aussehen, als sie tatsächlich war.
Ich war noch genervt vom Unvermögen der Stadtwerke, ihre Straßenbahnen mit defekten Türen durch die Gegend fahren zu lassen. Diesmal hatte sich ein regelrechter Machtkampf zwischen dem Fahrer und Eingangstüre abgespielt. Er rannte aus seinem Fahrerhaus zu der Türe, öffnete eine Abdeckung oberhalb der Türe, öffnete und verschloss die Türe mit einem Sechskantschlüssel, kehrte zurück zu seinem Fahrerhaus, wo sich die Türe beharrlich weigerte, einen Muckser von sich zu geben. Etliche Male ging dieses Spielchen hin und her. Dabei beschwor der Fahrer die Türe, er flehte sie an, er redete mit Engelszungen auf sie ein. Doch die Türe weigerte sich. Aussteigen und nächste U-Bahn nehmen.
Am Ende der Rolltreppe, zuvor durch das Menschengedränge an der U-Bahn-Haltestelle, davor in der voll gequetschten U-Bahn, schob sich diese bettelnde Frau in mein Blickfeld. Nach Osteuropa ordnete ich sie grob ein. Osteuropa, das war auch der Balkan, und den Balkan setzte ich mit Sinti oder Roma gleich, denn mit ihrem vagabundierenden Aussehen ähnelte sie denjenigen Menschen, die ich als Zigeuner oder Sinti oder Roma sonst wie gesehen hatte. Bettler bevölkerten an allen Ecken und Enden die Stadt. Je nachdem, wie der Bezugspunkt festgelegt war – nach Heimatland, nach Existenzminimum, nach Durchschnittsverdienst oder was auch immer – war Armut relativ. Diskussionen konnten rasch ausufern, was in unserem Wohlfahrts- und Sozialstaat als arm zu gelten hat. In dieses diffuse und unbestimmte Armutsgefüge ordnete ich die Bettelei ein – wer befasste sich schon mit dem konkreten Einzelschicksal ?
So zielgerichtet, wie die Frau auf mich zutrat, hätte ich sie am liebsten mit beiden Ellbogen zur Seite gestoßen. In der Enge der Rolltreppe stocherten meine Beine aufwärts. Dumpf senkte sich die Dunkelheit über die Haltestelle. Nicht nur wegen des Frostes zog ich meinen Schal schützend zurecht, sondern auch wegen des kalten Lichtes, das der lange Strich der Straßenbahnschienen zurück warf. Die Abfahrzeit des Busses in drei Minuten saß mir zudem im Nacken.
„Haben Sie ein paar Cent für mich … „ deutete sie mit der offenen Hand. Erregt schüttelte ich den Kopf und schritt weiter.
So wie sonst, kam mir der Bussteig wie ein Provisorium vor, so schmal, dass man kaum aneinander vorbei gehen konnte, so wirr, dass die Reihenfolge der Buslinien auf der Anzeigetafel hin- und hersprang, und so plötzlich, dass die Straßenbahn wie aus dem Nichts vor die Nase gefahren kam.
Dann schlich sie sich vom Ende des Bussteigs heran: die vermeintliche Sinti oder Roma. Zielstrebig wie bei mir, suchte sie die Wartenden an der Bushaltestelle auf. Sie öffnete ihre Hand, suchte den Blickkontakt und ließ sich nicht auf die Schnelle beiseite schieben. Die ersten wartenden Fahrgäste reagierten genauso wie ich: kalt, abweisend, ignorierend; sie waren froh, als sie wieder verschwunden war.
Sie war standhaft, sie ließ sich nicht entmutigen. Bei Bettlern ist die Frustrationstoleranz ohnehin unendlich hoch. Unendlich fleißig marschierten ihre Schritte vorwärts. Fahrgast für Fahrgast nahm sie mit ihrer geöffneten Hand unter die Lupe. Bis sich etwas regte. Ein älterer Herr kurz vor dem Rentenalter begann in seinem Rucksack zu kramen. Seine rechte Hand irrte umher, bis sie fand, was sie suchte: der ältere Herr hatte seine Brote nicht gegessen, so dass die Sinti oder Roma nicht zu verhungern brauchte. Diese neue Erfahrung, nicht abgewiesen zu werden, entlockte ihr nicht nur ein Dankeschön, sondern zauberte auch ein Lächeln in sein Gesicht.
Der nächste Fahrgast. Er hatte das Treiben seines Nebenmannes aufmerksam beobachtet und ließ es sich nicht nehmen, ihm nach zu eifern. Wieso so kalt und abweisend reagieren ? Wegen ein paar lumpiger Cent ? Waren wir nicht zu hochnäsig ? Er klimperte in seiner Geldbörse herum, entledigte sich seiner Klein- und Kleinstmünzen, tat ein gutes Werk und sein Portemonnaie profitierte von der Übersichtlichkeit.
Der nächste. Dieser Fahrgast gehörte wiederum zu den genervten und abweisenden Artgenossen, die unfähig waren, dieses diffuse und unbestimmte Armutsgefüge zu durchdringen. Noch weniger konnte er unterscheiden, wer wirklich arm war, welche Bettler Trittbrettfahrer waren oder welche Bettelei in großem Stil organisiert war.
Nun war ich an der Reihe. Blass zitternd, reichte sie mir ihre magere Hand. Sie bemerkte nicht, dass ich sie schon einmal zurück gewiesen hatte. Ohne nachzudenken, kramte ich in meiner Geldbörse nach alledem, was nach Kleingeld aussah. Bei meiner chronischen Geldknappheit war das nicht viel. Doch es reichte für ein 50 Cent-Stück. Dasselbe Lächeln traf mich, und ich spürte, dass ich einen Menschen glücklich gemacht hatte.
Die Irrungen und Wirrungen menschlicher Verhaltensweisen sind unergründlich.
Die nächsten Fahrgäste. Mit einem Mal war so etwas wie Solidarität entstanden. Die meisten spendierten ein paar Centstücke. Als sie das Ende des Bussteigs erreicht hatte, schlich die Sinti oder Roma-Frau zur Fußgängerzone weiter. Würde sie dort genauso viel Mitgefühl erzeugen ?