Donnerstag, 24. Januar 2013

die Bettlerin

Sie stieß mich ab und ich hasste diese Bettelei.

Ihre Gesichtszüge waren tief zerfurcht von Falten, ihre Haare waren in Büscheln zerzaust, ihre noch dominierende schwarze Haarfarbe schaffte es einigermaßen, ihren fortschreitenden Altersprozess aufzuhalten. Ihre Augen hatten sich tief in den Schädel eingegraben, ihre Gesichtsform war beinahe oval. Der aufrechte Gang behauptete sich gegen ihre müde Gestalt. Sie mochte glatte zehn Jahre älter aussehen, als sie tatsächlich war.

Ich war noch genervt vom Unvermögen der Stadtwerke, ihre Straßenbahnen mit defekten Türen durch die Gegend fahren zu lassen. Diesmal hatte sich ein regelrechter Machtkampf zwischen dem Fahrer und Eingangstüre abgespielt. Er rannte aus seinem Fahrerhaus zu der Türe, öffnete eine Abdeckung oberhalb der Türe, öffnete und verschloss die Türe mit einem Sechskantschlüssel, kehrte zurück zu seinem Fahrerhaus, wo sich die Türe beharrlich weigerte, einen Muckser von sich zu geben. Etliche Male ging dieses Spielchen hin und her. Dabei beschwor der Fahrer die Türe, er flehte sie an, er redete mit Engelszungen auf sie ein. Doch die Türe weigerte sich. Aussteigen und nächste U-Bahn nehmen.

Am Ende der Rolltreppe, zuvor durch das Menschengedränge an der U-Bahn-Haltestelle, davor in der voll gequetschten U-Bahn, schob sich diese bettelnde Frau in mein Blickfeld. Nach Osteuropa ordnete ich sie grob ein. Osteuropa, das war auch der Balkan, und den Balkan setzte ich mit Sinti oder Roma gleich, denn mit ihrem vagabundierenden Aussehen ähnelte sie denjenigen Menschen, die ich als Zigeuner oder Sinti oder Roma sonst wie gesehen hatte. Bettler bevölkerten an allen Ecken und Enden die Stadt. Je nachdem, wie der Bezugspunkt festgelegt war – nach Heimatland, nach Existenzminimum, nach Durchschnittsverdienst oder was auch immer – war Armut relativ. Diskussionen konnten rasch ausufern, was in unserem Wohlfahrts- und Sozialstaat als arm zu gelten hat. In dieses diffuse und unbestimmte Armutsgefüge ordnete ich die Bettelei ein – wer befasste sich schon mit dem konkreten Einzelschicksal ?

So zielgerichtet, wie die Frau auf mich zutrat, hätte ich sie am liebsten mit beiden Ellbogen zur Seite gestoßen. In der Enge der Rolltreppe stocherten meine Beine aufwärts. Dumpf senkte sich die Dunkelheit über die Haltestelle. Nicht nur wegen des Frostes zog ich meinen Schal schützend zurecht, sondern auch wegen des kalten Lichtes, das der lange Strich der Straßenbahnschienen zurück warf. Die Abfahrzeit des Busses in drei Minuten saß mir zudem im Nacken.

„Haben Sie ein paar Cent für mich … „ deutete sie mit der offenen Hand. Erregt schüttelte ich den Kopf und schritt weiter.

So wie sonst, kam mir der Bussteig wie ein Provisorium vor, so schmal, dass man kaum aneinander vorbei gehen konnte, so wirr, dass die Reihenfolge der Buslinien auf der Anzeigetafel hin- und hersprang, und so plötzlich, dass die Straßenbahn wie aus dem Nichts vor die Nase gefahren kam.

Dann schlich sie sich vom Ende des Bussteigs heran: die vermeintliche Sinti oder Roma. Zielstrebig wie bei mir, suchte sie die Wartenden an der Bushaltestelle auf. Sie öffnete ihre Hand, suchte den Blickkontakt und ließ sich nicht auf die Schnelle beiseite schieben. Die ersten wartenden Fahrgäste reagierten genauso wie ich: kalt, abweisend, ignorierend; sie waren froh, als sie wieder verschwunden war.

Sie war standhaft, sie ließ sich nicht entmutigen. Bei Bettlern ist die Frustrationstoleranz ohnehin unendlich hoch. Unendlich fleißig marschierten ihre Schritte vorwärts. Fahrgast für Fahrgast nahm sie mit ihrer geöffneten Hand unter die Lupe. Bis sich etwas regte. Ein älterer Herr kurz vor dem Rentenalter begann in seinem Rucksack zu kramen. Seine rechte Hand irrte umher, bis sie fand, was sie suchte: der ältere Herr hatte seine Brote nicht gegessen, so dass die Sinti oder Roma nicht zu verhungern brauchte. Diese neue Erfahrung, nicht abgewiesen zu werden, entlockte ihr nicht nur ein Dankeschön, sondern zauberte auch ein Lächeln in sein Gesicht.

Der nächste Fahrgast. Er hatte das Treiben seines Nebenmannes aufmerksam beobachtet und ließ es sich nicht nehmen, ihm nach zu eifern. Wieso so kalt und abweisend reagieren ? Wegen ein paar lumpiger Cent ? Waren wir nicht zu hochnäsig ? Er klimperte in seiner Geldbörse herum, entledigte sich seiner Klein- und Kleinstmünzen, tat ein gutes Werk und sein Portemonnaie profitierte von der Übersichtlichkeit.

Der nächste. Dieser Fahrgast gehörte wiederum zu den genervten und abweisenden Artgenossen, die unfähig waren, dieses diffuse und unbestimmte Armutsgefüge zu durchdringen. Noch weniger konnte er unterscheiden, wer wirklich arm war, welche Bettler Trittbrettfahrer waren oder welche Bettelei in großem Stil organisiert war.

Nun war ich an der Reihe. Blass zitternd,  reichte sie mir ihre magere Hand. Sie bemerkte nicht, dass ich sie schon einmal zurück gewiesen hatte. Ohne nachzudenken, kramte ich in meiner Geldbörse nach alledem, was nach Kleingeld aussah. Bei meiner chronischen Geldknappheit war das nicht viel. Doch es reichte für ein 50 Cent-Stück. Dasselbe Lächeln traf mich, und ich spürte, dass ich einen Menschen glücklich gemacht hatte.

Die Irrungen und Wirrungen menschlicher Verhaltensweisen sind unergründlich.

Die nächsten Fahrgäste. Mit einem Mal war so etwas wie Solidarität entstanden. Die meisten spendierten ein paar Centstücke. Als sie das Ende des Bussteigs erreicht hatte, schlich die Sinti oder Roma-Frau zur Fußgängerzone weiter. Würde sie dort genauso viel Mitgefühl erzeugen ?

Mittwoch, 23. Januar 2013

Wissen


Durch Regalreihen wandern. Buchrücken steht an Buchrücken, manche Einbände haben trotz ihres Alters nicht an Anmut verloren und stammen aus dem Ende des 19. Jahrhunderts. Sämtliche Spiegel-Hefte, beginnend in den 60er-Jahren, kann ich nachlesen. Seit eh und je haben Bibliotheken mich fasziniert. Schmökern, stöbern, Bücher in den Händen halten, dicke Wälzer von Enzyklopädien sammeln mit ihrem Gewicht das Wissen von Jahrtausenden. Blättern, Seite für Seite gleitet zwischen den Fingern, der Druck auf dem Papier hat die Vergangenheit bewahrt. Wissen kann nicht verstauben.

Google und Wikipedia sind eine höchst praktische Erfindung. Genau diese Wegezeiten spare ich: zu Bibliotheken. Mein Zeitmanagement profitiert davon. Ohne dass ich mich zwischen Regalen verirre, das richtige Buch nicht finde und Textstelle für Textstelle in einer Sisyphusarbeit durch wühlen muss, findet Google in Sekundenschnelle die eingegebenen Suchbegriffe. Irre, was Suchmaschinen können. Genauso irre funktioniert Wikipedia: Wissen poppt auf dem Bildschirm des Rechners hoch, Inhaltsverzeichnisse weisen wie in einem Buch den Weg, mit den Verlinkungen kann ich mich Begriff für Begriff schlau machen. Google und Wikipedia: beim Schreiben meiner Posts bringt diese IT-Unterstützung enorm viel. Begriff für Begriff durchdringe ich die Inhalte, ich verstehe, ich begreife sie; in der Umkehrproduktion kann ich aus dem Begriffenen Wort für Wort heraus schöpfen, einen Text zusammen fügen. Tag für Tag füllt sich mein Blog mit neuen Posts. Gäbe es kein Google und kein Wikipedia, wäre der Zeitaufwand für meine Posts so enorm, dass er exponentiell – da ich alternativ über Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Bibliotheken recherchieren müsste – vielleicht um das fünf- oder sechsfache steigen würde.

Ich eigne mir Wissen an, wobei mir bewusst wird, auf welchem engen Raum mein Wissen begrenzt ist, wenn ich in neue Wissens-Sphären vordringe. Oder umgekehrt: wie riesig meine Wissensdefizite sind, weil ich große Gebiete nicht, halbrichtig oder falsch durchdrungen habe. Wenn ich blogge, muss ich all die Worte mühsam erarbeiten, all die Formulierungen müssen stimmen, all die Inhalte muss ich richtig verstanden haben. Bei jedem Post wird mir die Grunderkenntnis des griechischen Philosophen Sokrates bewusst, die rund zweitausendfünfhundert Jahre alt ist: ich weiß dass ich nichts weiß.

Google und Wikipedia: obschon ich mangels Zeit auf deren Unterstützung angewiesen bin, betrachte ich diese Werkzeuge skeptisch. Die Suchmaschinen von Google können millionenfache Suchergebnisse ausspucken. Welches Wissen sich daraus ableitet, ist durch die Auswahl dessen, was Google findet vorgegeben. Ich erhalte lediglich einen Ausschnitt von Wissen. Das sind Puzzlestücke, die ich zu einem Ganzen zusammenfüge, Stücke von Wissen, zu denen ein durchgängiges Konzept fehlt.

Beim Stöbern durch Bibliotheken ist mir bewusst geworden, dass ein ganzheitlicher Ansatz vonnöten ist. Google und Wikipedia sind fragmenthaft. So findet Google hoch spezielle Sachverhalte – neue Krebstherapien, statische Berechnungen zur Deckentragfähigkeit oder die steuerrechtliche Behandlung von Bewirtungen – im Netz, so dass sich jedermann über solche Themen in Sekundenschnelle schlau machen kann. Ist dies Wissen ?

Wenn ich ein Buch in der Hand halte, ist das etwas Ehrwürdiges. Ich ruhe und konzentriere mich. Das Denken dringt tiefer ein, als wenn ich die benötigten Informationen auf dem Bildschirm des Rechners ablese. Aristoteles hat die Dinge in Kategorien eingeteilt. Wissen entsteht, indem Gegensätze, Verhältnisse, Vergleiche gebildet werden. Die Dinge in den Kategorien werden hinterfragt, sie werden in Beziehungen zueinander gesetzt, Widersprüche werden aufgelöst, Schlüsse werden gezogen. Fragen und Antworten springen hin und her. Stufe um Stufe dringt das Denken tiefer in die Dinge hinein. Aus dem besonderen wird das übergeordnete Allgemeine entwickelt. Dieses wird wiederum zueinander in Beziehung gesetzt. Wissen entsteht in der Gesamtheit aller Kategorien und Querbeziehungen.

So wie es normalerweise an den Schulen gelehrt wird. Die Gesamtheit der Quellen recherchieren. Auf Originalquellen zugreifen; das sind in erster Linie Bücher, Zeitschriften, Aufsätze und dergleichen. Manche Extrakte finden sich über Google – es sind nur die Ausschnitte ganzheitlicher Informationen.

Google und Wikipedia sind ein höchst praktischer Ersatz dafür, wie die richtige Methodik der Wissensaneignung funktioniert. Kant geht in seiner Kritik der Urteilskraft etwas weiter als Aristoteles. Im Zeitalter der Aufklärung nimmt der Verstand eine aktive Rolle ein. Er übernimmt eine Art von Leitungsfunktion, indem er die Dinge wahrnimmt, mit seiner Auffassungsgabe einordnet, sie zu einem Ganzen zusammenfasst und darstellt. Dabei durchläuft der Verstand Zyklen der Reflexion, indem die Dinge laufend neu angeordnet werden und Strukturen angepasst werden.

Google und Wikipedia sind Werkzeuge, die Methodenhoheit hat der Verstand. In unserer heutigen, schnelllebigen Zeit vervielfacht sich das Wissen in immer kürzeren Zeiträumen. Oft sind es Technologien, die in immer kürzeren Wachstumszyklen neues Wissen erzeugen. Nicht nur durch neue Technologien, auch in Alltagssituationen, beim Einkaufen oder in der Freizeit wird mein Verstand durch das ausufernde Wissen überstrapaziert, um die Dinge herauszufiltern und sie in Kategorien einzuteilen, so wie Aristoteles oder Kant es gemacht haben.

Dazu komme ich kaum. Ich muss die Bodenhaftung wieder herstellen. „Lire et écrire“, hatte Sartre einst formuliert – „lesen und schreiben“. Die Suche nach dem Weg kann zu richtigem Wissen kann auch nach Hause führen. Im Fernsehsessel lehne ich mich zurück. Zu den Höhepunkten des Tages gehört meine Abendlektüre. In diesem Ruhezustand läuft mein Verstand auf Hochtouren. Ich blättere in einem Buch. Bestimmte Textpassagen lese ich mehrfach, wenn ich sie nicht richtig verstanden habe oder auch, wenn ich reflektiere, nach Analogien suche oder Schlüsse ziehe.

Ich werde künftig auf den richtigen Wissens-Mix achten. Nicht nur Google und Wikipedia, sondern auch Bücher, Zeitungen, Zeitschriften und Bibliotheken. Nichts kann dieses erhabene Gefühl ersetzen, wenn ich in Büchern herum blättere.

Montag, 21. Januar 2013

Glockentürme (8) - deutsch-französischer Glockenturm in Mirecourt und Bonn-Schwarzrheindorf


1957 wurden Jean Noel und André Laurent stutzig. Jean Noel war Priester in Mirecourt, einer 8.000-Seelen-Stadt zwischen Nancy und Epinal, der Hauptstadt des Département Vosges – irgendwo in Lothringen.

Der Ausläufer der Vogesen krümmen sich über die Hügellandschaft. In einem Seitental der Mosel gelegen, ragt der Glockenturm aus den engen Straßen zwischen flach herunter gezogenen Häuserdächern heraus. Die Kirche „Notre dame de la nativité“ in der Jean Noel Pfarrer war, liegt im Herzen des Städtchens Mirecourt.

Gemeinsam mit André Laurent, einem anderen Pfarrer im Département Vosges, recherchierten die beiden die Spuren des Heiligen Pierre Fourier, der in Mirecourt geboren war. Noch heute gibt es eine Inschrift aus dem Jahr 1608, dass Pierre Fourier in der Kirche „Notre dame de la nativité“ 1565 getauft worden ist. „Nativité“ bedeutet Geburt, so dass die Kirche nach Pierre Fourier benannt worden ist.


Bei den Recherchen stießen die beiden im Glockenturm auf eine Glocke, die dem Heiligen Michael (und der Kirchenpatronin Maria Magdalena) geweiht war. Der Heilige Michael ist ein Schutzpatron, der von Soldaten während Schlachten angerufen wurde. Die erste Erscheinung des Heiligen Michael auf einem Berg in Apulien in Süditalien datiert aus dem Jahr 496. Pierre Fourier wurde heilig gesprochen, da er während der Reformation den Augustiner Klosterorden gegründet hatte mit der Absicht, der Versklavung von Frauen in der Männergesellschaft entgegen zu wirken. Was haben die beiden Heiligen miteinander zu tun ? Nur soviel, dass die Glocke des Heiligen Michael in der Kirche des Heiligen Fourier zufällig gelandet war.

Als Jean Noel und André Laurent die Glocke betrachteten, rätselten sie und staunten, denn die Glocke trug die Aufschrift „Schwartzenrheindorff“. Obschon manche Dörfer und Städte in Lothringen auf „-dorff“ oder „-troff“ enden, gab es nirgends einen Ort oder eine Stadt namens „Schwartzenrheindorff“.

Woher stammte die Glocke ? In der Stadtchronik und Archiven wurden sie fündig. Die Glocke war eine Kriegsbeute der Napoleonischen Truppen, nachdem diese 1794 das Rheinland besetzt hatten. Bei Beutezügen in der damaligen Zeit war es durchaus üblich, Städte zu plündern und alles, was kostbar war, einzukassieren. Dazu gehörten auch Glocken.

Die Glocke war aus der Doppelkirche in Bonn-Schwarzrheindorf aus dem 12. Jahrhundert geraubt worden. Im Jahr 1636 war die Glocke gegossen worden und dem Heiligen Michael und Maria Magdalena geweiht worden. Die französischen Besatzungstruppen hatten offensichtlich eine Verwendung für diese Glocke. So wurden die 330 Kilogramm Glockengewicht nach Mirecourt in Frankreich geschafft, so dass die Kirche des Heligen Fourier dem Heiligen Michael Unterschlupf gewährte.

Was tun ? 1957 hatte sich das Verhältnis zwischen den Erzfeinden Deutschland und Frankreich längst entspannt. Jean Noel und André Laurent reisten nach Bonn, um die Kirche des Heiligen Michael kennen zu lernen, aus dem die Glocke geraubt worden war.

Diese Reise fiel genau in die Phase hinein, in der die Grundlagen für die deutsch-französische Freundschaft geschaffen wurden. So jährt sich Morgen der 50. Jahrestag der Elysée-Verträge, die zwischen Konrad Adenauer und Charles de Gaulle unterzeichnet wurden.

Die Glocke geriet in den Sog der Außenpolitik. Das Schicksal der Glocke wurde somit auf höchster politischer Ebene diskutiert. Es war gemeinsamer Wunsch der beiden Kirchengemeinden in Mirecourt und Bonn-Schwarzrheindorf, die geraubte Glocke von Mirecourt nach Bonn zurückzuführen und der Kirchengemeinde Mirecourt eine neue Glocke zur Verfügung zu stellen. Dafür spendierten die beiden Staaten entsprechende Geldmittel.

Kurz darauf, gründeten Bonn-Schwarzrheindorf und Mirecourt eine Städtepartnerschaft. Am 27. März 1965 war es dann soweit: die Glocke aus dem Jahr 1636 war in Bonn-Schwarzrheindorf aus Mirecourt wieder angekommen. Gleichzeitig war die neue Glocke für die Kirche „Notre-dame de la nativité“ in Mirecourt fertig gegossen worden.

Beide Glockentürme wurden mit einem großen Fest gefeiert, dabei war in Bonn Konrad Adenauer sogar persönlich anwesend. Unter den Gratulanten gehörte auch Papst Paul der VI., der mit diesen Glockentürmen all die Liebe zweier christlicher Völker verband.

So sind zwei Glockentürme zum Symbol der Freundschaft zwischen Deutschen und Franzosen geworden.

Bedanken möchte ich mich bei der französischen Bloggerin MamLéa, die mir die Veröffentlichung der Fotos aus Ihrem Blog erlaubt hat.

Donnerstag, 17. Januar 2013

80 Jahre und Autofahren

Oma, Opa, Sohn, Schwiegertochter und Enkeltochter hatten es sich schmecken lassen. Das Restaurant hatten wir verlassen und wir schlenderten zum Parkplatz zurück, zu dem eine Stichstraße jenseits der Hauptstraße führte. Ein Feldweg und Wiesen schlossen sich an, die von der buckeligen Gestalt eines Holzzauns markiert wurden. In der Ferne brummte der Autoverkehr auf der Landstraße.

Eingequetscht von einem Bretterzaun, war der Parkplatz eine Herausforderung. Schräg am Bretterzaun geparkt, musste ich vier, fünf, sechsmal vor- und zurückfahren, um aus der Parkposition heraus zu kommen. Ich musste fast um 360 Grad drehen, aber mit der Ecke des Bretterzauns dazwischen. Nach vorne schauen, nach hinten schauen, Lenkrad nach links einschlagen, Lenkrad nach rechts einschlagen, die Enge war tückisch, um nicht am Zaun oder dem Auto auf der benachbarten Parkfläche anzuecken. Das verlangte ein Höchstmaß an Konzentration.

Dasselbe Wendemanöver stand dem Opa bevor, denn wir hatten uns auf zwei Autos aufgeteilt. 80 Jahre, steinalt, eine unübersehbare Fülle von Lebenserinnerungen, den zweiten Weltkrieg als Kind erlebt, mit 13 Jahren bei Kriegsende an Hitlers letztem Aufgebot vorbeigeschrammt, mit 15 Jahren in die Fabrik geschickt, ein Haus gebaut ohne eine D-Mark Hypothek aufzunehmen, vor fünf Jahren Goldhochzeit, klammerte sich die eine Hand um die Eingangstüre; fleischig und blass, tastete sich die andere Hand ins Fahrzeuginnere. Bauch und Rückgrat zögerten, bis sie einsteigen und die gleichförmige Masse des Körpers in einem Rutsch auf den Fahrersitz fiel. Seine schlohweißen Haare standen in die Höhe.

Die mattgrüne Lackierung des Opel Astra, der genauso in die Jahre gekommen war, war so bleischwer wie das trübe Wetter, denn seit einer Woche wollte die Wolkendecke einfach nicht aufreissen.

Ich hatte stets ein mulmiges Gefühl, wenn er Auto fuhr. Er hatte abgebaut. So manche Bewegung geschah im Zeitlupentempo, wenngleich er unverändert im Garten aktiv war und mit handwerklichen Kenntnissen glänzen konnte. Er fuhr stets ohne Brille – er war kurzsichtig und trug keine Gleitsichtbrille: würde das gut gehen ? Wie sollte er auch anders ? Sie lebten im tiefsten Land auf dem Dorf. Wenn man vom Bäcker und Metzger absah, musste man zum Einkaufen, zur Sparkasse oder zu Ärzten in die Nachbarstadt fahren. Busverbindungen ? Fehlanzeige.

Bevor ich auf die Hauptstraße abbog, beobachtete ich das Geschehen im Rückspiegel, denn mich selbst hatte die Wenderei einige Nerven gekostet. Er fuhr rückwärts in den Jägerzaun hinein, bremste aber rechtzeitig ab, damit dieser nicht abknickte. Als er wieder nach vorne fuhr, sah ich, dass dies nicht tragisch war, denn der Zaun war an weiteren Stellen eingedrückt, denn die Parkfläche war effektiv zu eng. Ähnlich wie bei mir, manövrierte er etliche Male hin und her, bis er die Situation meisterte.

Oma, Opa, Sohn, Schwiegertochter und Enkeltochter fuhren nach Hause.

Wir fuhren mit unserem Auto nicht die Hauptstraße, sondern am Ortsrand entlang. An der Periphierie des Waldhufendorfes spannte sich die Seitenstraße in die Länge. Selbst auf dem Land war vieles zugebaut. An freistehenden Einfamilienhäusern mit großen Grundstücken konnten wir den Einfallsreichtum der Bauherren bewundern. Schmiedeeiserne Zäune, Säulen am Eingang, massives Fachwerkgebälk, pastellfarbener Mauerputz mit grünen, mediterran anmutenden Fensterläden, manche Bauherren hatten halbe Villen in die Landschaft gepflanzt. Dahinter senkte sich der Blick in die Felder hinab, die hinter einer Mulde wieder anstiegen und in der Ferne grenzenlos waren. In die Wiesen, die vom Frost ausgebleicht waren, schob sich die breite Gestalt eines Aussiedlerhofes.

Bei Oma und Opa angekommen, warteten wie ungefähr die Dauer einer Werbepause, was uns nicht beunruhigte.

„Klappt es noch mit dem Autofahren ?“
„Ja, solange es geht. Das Alter kann niemand aufhalten.“

Wohl war mir dabei nicht zumute. Bruder und Schwägerin kümmerten sich zwar um sie, aber wie lange würde die Autofahrerei gut gehen ? Würde er früher oder später einen Unfall bauen ? Gab es so etwas: einen altersbedingten Zwangsentzug des Führerscheins ? Dabei war mir genauso unwohl.

„Gehen wir rein und trinken wir eine leckere Tasse Kaffee … „
Als Kontrast zu den frostigen Temperaturen schmeckte der Kaffee besonders gut.

Lecker gegessen und ein paar leckere Tassen Kaffee getrunken, fuhren wir später einhundert Kilometer entfernt nach Hause zurück.

Freitag, 4. Januar 2013

Frank Schirrmacher - Minimum


Beim Lesen des Buches dachte ich spontan: so etwas musste niedergeschrieben werden. Schirrmachers Gedankengänge passten genau dazu, was ich zu Familie und zu sozialen Bindungen dachte. Und umgekehrt: dass soziale Bindungen verworfen wurden, so dass ein Ersatz-Netz von sozialen Bindungen konstruiert werden musste; fehlte dieses, drohte ein Absturz ins Bodenlose.

Doch ich möchte von vorne anfangen. Schirrmacher beginnt mit der Katastrophe am Donner-Pass. 1846 bewegte sich ein Treck von 81 Siedlern, angeführt von George Donner, durch den Mittleren Westen der USA. Ende Oktober überraschte sie ein früher Wintereinbruch in der Sierra Nevada. Schneestürme und eisige Temperaturen hörten nicht auf, so dass sich die Siedler weder fortbewegen konnten, noch gerettet werden konnten. Dies geschah erst im März des Folgejahres, nachdem die Siedler unter grausamen Bedingungen überwintert hatten. Mord, Kannibalismus, keine Gräueltat wurde ausgelassen, um zu überleben. Rund die Hälfte der Siedler starb in der Hölle des Winters.

Da innerhalb der Familie überdurchschnittlich viele Menschen – inklusive Alte und kleine Kinder – überlebt hatten, schließt Schirrmacher hieraus, dass der soziale Zusammenhalt in einer Familie höher zu bewerten ist als Individualismus und Einzelkämpfertum.

Die Tragödie am Donner-Pass begleitet mehrere Kapitel – quasi als Leitmotiv. Dabei bilden sich zwei Kernbegriffe heraus. Bindungen und Netzwerke ergeben den Begriff des sozialen Kapitals. Dieses Kapital beruht auf dem Solidaritätsprinzip innerhalb der Gemeinschaft – Vorbild ist die Familie – und steht dem ökonomischen Prinzip konträr gegenüber. Der zweite Kernbegriff ist der Altruismus: Liebe für den anderen bis zur Selbstaufgabe, die in der Familie intensiver ist als bei anderen sozialen Bindungen.

Schirrmacher beleuchtet unsere Gesellschaft nach diesen Kriterien: welche Sichtweisen auf Familien vorherrschen. Der Titel „Minimum“ schwenkt zum Donner-Pass zurück. Dort war es ein Minimum an physischer Existenz, das den Menschen in der Hölle des Winters verblieben war. Heute ist es großen Teilen unserer Gesellschaft ein Minimum an sozialen Bindungen und sozialen Netzwerken. Dies liegt an individuellen Nutzenkalkülen, mit denen aus ökonomischer Sicht soziale Bindungen und soziale Netzwerke – auch Familien inklusive Kinder - bewertet werden.

Schirrmacher untermauert diese These mit einem Beispiel aus der Spieltheorie:
Ein Versandhandel hat drei Kunden dasselbe Produkt zugesandt und alle drei Kunden haben eine falsche Rechnung erhalten (der Rechnungsbetrag ist zu niedrig). Studenten aus den Fachbereichen Astronomie, Philosophie und Ökonomie müssen einen Fragebogen ausfüllen, ob sie dem Versandhandel den Fehler mitteilen oder nicht. 1.  Fragebogen ausfüllen, ohne dass die Studenten miteinander geredet haben  2.  Diskussion untereinander  3.  Fragebogen ausfüllen nach Diskussion. Bei Punkt 3 wird die Anzahl der unehrlichen Studenten bzw. Kunden immer größer sein als bei 1), da die Ehrlichkeit den übrigen beteiligten Personen schadet. Es setzt sich daher das ökonomische Prinzip durch, dass jeder seinen eigenen individuellen Nutzen betrachtet.

Diejenigen Kapitel, in denen Schirrmacher ausführt, dass in Deutschland zu wenige Kinder geboren werden, finde ich eher schwach. Er betreibt Ursachenforschung – wobei die Zusammenhänge eines überlasteten Sozialstaats, einer falschen Ausländerpolitik oder zu hohen Fernsehkonsums eher vage erscheinen. Genauso vernachlässigt er den Gegenpol des familiären Solidaritätsprinzips: wenn Familien zu sehr zusammen hocken, wenn Konflikte in der Familie nicht gelöst werden können, weil die Familie das Maß aller Dinge ist; wenn Familien eine Art von Scheuklappendenken hervor bringen.

Stark ist Schirrmacher bei seinen Analysen zum Zustand unserer Gesellschaft. Dass die Rohstoffe der Zukunft knapper werden, nämlich Beziehungen zu Freunden oder Verwandten. Dass es an Vertrauen fehlt, weil Uneigennützigkeit und Solidarität abhanden gekommen sind. Dass unsere Gesellschaft hoch individualisiert ist, wobei die einzelnen Individuen nur schwach miteinander kommunizieren. Dass, wenn die Identifizierung mit der Familie fehlt, die Suche nach dem Selbst ins Leere führen kann.

Um die Familie aufrecht zu erhalten, kommen Frauen Mehrfach-Rollen zu, bei denen sie über sich hinaus wachsen müssen. Eigene Kinder müssen sie groß ziehen. Da unsere Gesellschaft immer älter wird, müssen sie sich mit zunehmender Intensität um die eigenen Eltern kümmern. Dazu kommt ihre Rolle im Beruf, dass es zum Normalzustand geworden ist, dass Frauen mit ihrem eigenen Einkommen zur wirtschaftlichen Basis beitragen. Am Donner-Pass: dort war bewiesen worden, dass es die Frauen waren, die den familiären Zusammenhalt herbei geführt hatten. So manche Frau gibt es genauso heutzutage, die als Übergröße alles managed und dafür sorgt, dass alles in der Familie in geordnete Bahnen gelenkt wird.

In vielen Passagen hat mir Schirrmacher aus der Seele gesprochen. Obschon die Kapitel über die Kinderlosigkeit in Deutschland etwas kürzer hätten abgefasst werden können, ist vieles essenziell und lesenswert in diesem Buch. Schirrmacher, der übrigens Mit-Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist, hat mich fasziniert.