Montag, 9. Dezember 2013

übel

Der Gesang des Schulchors „In der Weihnachtsbäckerei“ war friedlich verstummt, als sich alles in Wohlwollen auflöste, Schülerinnen und Schüler zu ihren Eltern zurückstrebten und der Adventsbasar in der Grundschule alle Besucher mit offenem Herzen empfing. Die Schulleiterin hatte mit ihrer etwas quäkenden Stimme den Basar eröffnet, die Aula war rappelvoll, Eltern und Kinder sortierten sich. Das Licht des späten Nachmittags fiel so unbestimmt durch die Fenster wie die Blicke in den Gesichtern, die am Freitag vor dem ersten Advent mit der Vorweihnachtsstimmung noch nichts sonderliches anfangen konnten. Schüchtern hingen selbst gebastelte Weihnachtssterne die Fensterflächen hinab, das Kuchenbüffet sah dem Besucherandrang erwartungsvoll entgegen.

Voller Skepsis sah ich die beginnende Weihnachtszeit auf mich zurollen. Dennoch sah ich die Dinge positiv. Die Schule hatte sich Mühe gegeben. „In der Weihnachtsbäckerei“ zu singen, betrachtete ich als Kult, denn dieses Weihnachtslied fiel effektiv aus dem Rahmen. Ich entkam dem ganzen Gedrängele, indem ich einen Stehtisch dicht am Fenster erwischte. Ich schaute auf den Schulhof, wo Kinder in wirrem Gehopse hin- und her rannten, ihre Eltern umschwärmten und sie dann hinter sich herzogen, um ihnen in ihren Klassenräumen Basteleien zu zeigen.

Ich sah die Dinge auch deswegen positiv, weil ein Märchenerzähler vorlas. Und zwar Hänsel und Gretel. Der Märchenerzähler gab sich Mühe und nahm sich viel Zeit, denn eine Stunde lang verschwand unsere Kleine gemeinsam mit anderen Kindern. Niemand störte die Kinder hinter einem grünen Samtvorhang, wo der Märchenvorleser sie in aller Ausführlichkeit in die Geschichte über eine Hexe und zwei bitterarmen Kindern entführte, die zum Schluss ein gutes Ende fand.

 Derweil stützte ich meine Ellbogen gemütlich auf den Stehtisch. Der Kaffee dampfte, ich schlürfte den brühwarmen Muntermacher hinunter. Zugezogen, hatte ich zu den Bewohnern im Ort keinen regen Kontakt. Doch Gesichter, die ich über Kindergarten oder Schule oder Nachbarschaft kannte, rannten mir bei solchen Veranstaltungen in der Grundschule stets über den Weg.

Es war Ellen.

Die Falten hatten in dem Gesicht der Mittvierzigerin Überhand genommen. Schlaff hing ihr schulterlanges, braunes Haar herunter. Ich kannte sie, weil die Firma ihres Mannes uns damals ein Angebot für Solarzellen auf unserem Häuserdach machen wollte – was dann aber nicht geschah. Ihr jüngster Sohn ging in die dritte Schulklasse.

„Wie geht es ?“
„Übel. Manchmal bin ich nur noch am Heulen.“

Ich wusste, dass ihr Ehemann sie kurz vor der Silberhochzeit verlassen hatte, weil er seine eigene Freiheit entdeckt hatte und sich selbst verwirklichen wollte.

„Dein Lebensstandard geht wahrscheinlich gleich Null.“
„Ich sage nur: übel. Im Hotel mache ich Zimmer sauber, weil ich den ganzen Tag nicht in der Bude hocken kann. 600 Euro verdiene ich dort. 100 Euro bleiben übrig, weil dann das Amt kein Wohngeld mehr zahlt. Das Amt zieht mich also auf Hartz IV-Niveau runter, egal, was ich mache.“

„Deine Jungs ?“
„Genauso übel. Mein ältester, der sechzehn ist, ist seit einem Jahr bei seinem Vater. Mein Ex hat nun eine Freundin, die gut verdient. Er kann unserem ältesten all dieses elektronische Spielzeug bieten, was ich ihm nicht bieten kann.“

Ich holte uns beiden einen weiteren Kaffee. Ich staunte, wie ruhig sie war. War es unser Gespräch, das ihre Verkrampfung löste ? Dann umklammerten ihre Finger den Kaffeebecher, in langen Schlücken sog sie ihn in sich hinein. Das Menschgewimmel vor der Kuchentheke hatte sich gelichtet. An den Spiegelungen der Deckenbeleuchtung vorbei, verirrte sich mein Blick durch das Fenster, wo sich unsere Pfarrkirche standhaft von dem grauen Novemberhimmel abhob.

„Deine anderen beiden Jungs ?“
„Der ältere schreit nur rum. Ich könne nicht kochen, er will meinen Fraß nicht essen, ich wäre eine Schlampe. Vater und Freundin stacheln ihn an. In ein paar Jahren ist der auch bei seinem Vater, weil er zahlungskräftiger ist und mehr bieten kann.“

„Deine Eltern ?“
„Habe ich keine. Bin bei meiner Pflegemutter aufgewachsen.“

Ich senkte meinen Kopf. Das war übel.

Wir redeten über weitere Übelkeiten, über Scheidungsrecht, über Endlosveranstaltungen von Gerichtsprozessen, über eine höchst richterliche Entscheidung, dass die 250 Euro Unterhalt ihre Richtigkeit hatten. Übel war auch der tägliche Existenzkampf, mit dem Geld klar zu kommen.

Sie jammerte nicht, umgekehrt war ihr aber auch kein Lächeln zu entlocken. Dieser Adventsbasar hatte mir übel mitgespielt. Wie aufs Glatteis geführt kam ich mir vor, ob und wie ich ihr helfen könnte. Üblicherweise hielt ich mich von solchen Beziehungsdramen ganz weit fern. Bislang kannten wir sie so gut oder so schlecht, wie wir die übrigen Nachbarn in unserer Nachbarschaft kannten.

Als ich den Adventsbasar verlassen hatte, geisterte sie noch lange in meinem Kopf herum. Von solchen Einzelschicksalen bekamen wir eher selten etwas mit. Ich hatte in Abgründe hinein geschaut, die uns erspart geblieben waren. Glücklicherweise.

10 Kommentare:

  1. ja so ist das Leben nicht jeden gehst gut und doch leben sie weiter irgendwie noch auf recht gehen... diese Menschen sind oft näher in unsere Umgebung wie man denkt!

    Lieben Gruss Elke

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  2. Schlimm, wenn man einem solchen Menschen begegnet,
    der fast allen Lebensmut verloren hat. Man steht dem
    meist hilflos gegenüber.
    Einen schönen Abend wünscht dir
    Irmi

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  3. Ja, sowas ist schlimm, ganz schlimm und noch schlimmer wenn eine ehemalige Liebe in solch einem Rosenkrieg endet und der ehemalige Partner auf der Strecke bleibt. Am Schlimmsten ist noch wenn Kinder in diesen Krieg mit hineingezogen, aufgestachelt werden und man sich in keinster Weise wehren kann.

    Ich hoffe die Frau findet auch nochmal ihr Glück und kann dann hocherhobenen Kopfes auf ihren Ex zeigen.

    Liebe Grüsse
    Nova

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  4. Hallo Dieter, da steht man hilflos gegenüber und ist geschockt.Hoffentlich findet die Frau einen Weg wieder frohen Mutes durchs Leben zu gehen.

    Schönen Tag und liebe Grüße
    Angelika

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  5. Ja. Das Leid ist in dieser Welt flächendeckend verteilt.
    Mir gefällt es einerseits sehr gut, wenn jemand auf die Frage, wie es ihm geht, wahrheitsgetreu antwortet und andererseits stehe ich natürlich solchen Geschichten wie du sie hier erzählst hilflos gegenüber. Meine Hoffnung ist, dass Zuhören für den Leidenden für ein bisschen Linderung sorgt.

    lieben Gruß
    Brigitta

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  6. Hej Dieter,
    durch Dein Zuhören hast Du der Frau schon geholfen. In einer Welt, die die Menschen nur über ihre Leistung definiert, bleibt Vielen wenig Zeit, sich den sozialen Bedürfnissen anderer zu widmen und sei es auch nur ein Gespräch. Du hast sie Ernst genommen. Mein Eindruck ist, dass ihre nicht rosige Vergangenheit sie gerade befähigt, auch diese Situation zu meistern. Es geht um das Geld, aber noch viel mehr um die Verletzungen, die ihr durch Nahestehende zugefügt werden. Das ist oft noch schwerer auszuhalten.

    Beste Grüße
    Beate

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  7. Lieber Dieter,
    auch ich bin der Überzeugung, dass du allein durch dein geduldiges Zuhören geholfen hast.
    So wie du das Gespräch schilderst hat man den Eindruck, dass dieser Mensch resigniert hat und das ist wirklich schade. Denn das Leben erfordert Mut und ganz viel Kraft. Resignation lässt beides nicht aufkommen.
    Uns Zuhörern-und Lesern bleibt nur zu hoffen, dass es der Frau vielleicht doch gelingt, diesen Teufelskreis zu durchbrechen.
    Liebe Grüße
    moni

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  8. Hallo Dieter,
    viele Männer tauschen ihre Frauen in dern 40er Jahren gegen eine Jüngere aus. Das ist übel! Auf jeden Fall. Rosenkrieg finde ich auch schrecklich. Da wird die einstige Liebe mit Füßen getreten. Auch was heutzutage mit der Arbeiterei in D los ist. Einfach zum heulen und schreien.
    Aber ich muss dir auch ehrlich mal sagen, dass ich wenig Verständnis für das Verhalten dieser Frau habe. Ohne die Arbeit könnte sie sich besser um ihre Jungs kümmern, sicher auch um andere Dinge. Einen Menschen, den man kaum kennt, so mit seinen Problemen zu zu müllen gehört sich einfach nicht. Die Lüge, mir gehts gut, ist auch nicht immer angebracht, aber dass sie dich so 'runter zieht hätte nicht sein müssen. Schließlich kann sie davon ausgehen, dass du selbst auch deine Probleme haben wirst.
    Danke für deinen cmt.: Da kann ich nur für unsere Stadt sprechen....Dir würde ich mal empfehlen bei unserer Angelika nachzusehen...
    wieczoramatische Grüße zum Dienstag, (◔‿◔) | Mein Fotoblog

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  9. Hallo Dieter! Solche Gespräche können schon sehr belastend sein, aber ich denke wenigstens zuhören, wie du es getan hast, ist eine wichtige Hilfe für einen Menschen in solch einer verzweifelten Lage. Da hast ein gutes Werk getan als Zuhörer.
    Es spricht ja auch für dich, dass diese Frau sich dir gegenüber so geöffnet hat, ich denke, sie hätte nicht jedem Menschen dies alles so offen erzählt.
    Herzlichst MinaLina

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  10. ich finde deine Schilderung wieder interessant geschrieben. Da versuchst du dich gerade den Adventsgefühlen zu nähern - und dann bricht so eine Negativstimmung über dich herein. Solche gefühlten Gegensätze bringen mich auch zum Nachdenken ...

    lieber Gruß von Heidi-Trollspecht

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