Freitag, 14. September 2012

Jessie


Sie ließen es sich schmecken. Bei Pizza und Pasta trafen sie sich beim Italiener um die Ecke. Alte Klassenkameradinnen, waren sie in der Hauptschule in derselben Klasse gewesen. Sporadisch und spontan hatten sie sich verabredet, und das letzte Treffen im Winter bei knackig-kalter Kälte lag anderthalb Jahre zurück. An dem Zweiertisch am Fenster mit dem kreuzförmigen Rahmen hatten sie es sich gemütlich gemacht. In dem Aquarium vor der Wand blubberte das Wasser. Da sie sich über 30 Jahre kannten, wussten sie bestens über den anderen Bescheid.

„Der Kontrollzwang meines Mannes artet immer mehr aus. Er hat mir verboten, dass ich mich um Angelegenheiten rund ums Haus kümmere. Versicherungen, Strom, Wasser, Pläne vom Haus hat er im Heizungskeller eingeschlossen und den Schlüssel verschwinden lassen. Ich habe den Schlüssel aber gefunden und ihn nachgemacht. “

Die Ehe bestand eigentlich nur noch auf dem Papier. Begonnen hatte alles, als ihr Mann arbeitslos geworden war. Zur Untätigkeit gezwungen, tobte er sich in Haus und Garten aus. Dabei stellte er fest, dass seine Welt nie perfekt genug war. Die Regale hingen nicht haargenau im senkrechten Winkel. Die Tomatenreihen konnten noch optimaler stehen, um ein Stückchen länger von der Sonne beschienen zu werden. Die Wandflächen mussten perfekt eben sein, damit tapeziert werden konnte. Einkaufen, Kochen , Putzen, Waschen, Bügeln, nichts konnte sie ihm Recht machen. Selbst als er wieder Arbeit gefunden hatte, hörten seine Anfälle von Tobsucht nicht auf. Gemecker allenthalben, ständiger Streit um Kleinkram, auf Schritt und Tritt kontrollierte er sie. Nicht mit Fäusten, sondern verbal, mit Worten prügelte er auf sie ein. Sie sei schlampig, faul, inkompetent, eine schlechte Mutter, verschwende das Haushaltsgeld. Schrill und kreischend, redete ihre Stimme dagegen an. Ein Geschrei voller Misstöne, bei dem jeder nur noch verbal auf den anderen eindrosch.

„Wieso hast du diesen Ekel von Mann nicht längst verlassen ?“
„Vielleicht so ein letztes Stück Anne … „

Etwa sieben Jahre lang dauerte nun dieser Zustand des gegenseitigen Belauerns. Soweit es zu schaffen war, gingen sie sich aus dem Weg. Werkbank im Keller, Garten, Bücherecke, Küche, ihr Haus hatte genügend Raum, um ihr Zusammensein auf das allernötigste zu reduzieren. Dieses Geschrei voller Misstöne, das man bis in die Nachbarschaft hörte, war wohl auch Ausdruck ihres Überlebenswillens. Beklemmend, hatten die Streitereien wie eine stinkende, undefinierbare Masse ihre Spuren im Haus hinterlassen. In Schichtarbeit ging sie ihrem Job im Altenheim nach. Engagement und die Lust, anderen Menschen zu helfen, verlagerte sie in ihren Beruf.

In diesem schrecklichen Haus hatte sich jeder mit jedem verkracht. Das ständig gereizte Klima, Streit wegen Nichtigkeiten, all dies hatte sich genauso auf die Kinder übertragen. Pubertierend, begehrten sie auf, protestierten, rebellierten, brüllten ihre Eltern an, gingen notgedrungen in die Schule, schlossen sich in ihr Kinderzimmer ein, um von alledem nichts mitzubekommen. Dabei hatte sich auf diesem Schlachtfeld eine Koalition gebildet: der Vater und die kleine Tochter Anne waren so etwas wie Komplizen, die selbst einander misstrauten, die aber einte, dass sie ihrer Mutter bzw. Gattin  verabscheuten. Als Mutter hatte sie Angst, diese letzte Verbindung zu ihrer kleinen Tochter abzuschneiden.

„Hmm, schmeckt.“
„Meine Lasagne schmeckt auch vorzüglich…. „
Beide wohnten am anderen Ende des Ortes, so dass es geschehen konnte, dass sie sich monatelang im Ortszentrum nicht über den Weg liefen. Beide waren Ende 40, beide hatten einen Mann plus Kinder, die das pubertierende Alter überschritten hatten. In ihrem runden Gesicht hatten sich Falten gebildet, die etwas Geselliges hatten. Ihre roten Wangen leuchteten. Ihr kurz geschnittenes braunes Haar zeigte Andeutungen von Locken.

„Schön groß die Pizza. Lecker. Schmeckt. Der Rand ist schön kross.“
„Eigentlich bin ich gar nicht der Pizza-Fan. Pasta, Nudeln, esse ich lieber. Die Lasagne hier schmeckt besser wie die, die ich zu Hause mache.“

Die Dunkelheit hatte sich herab gesenkt. Während das matte Licht aus dem Lampenschirm unter der Decke nur mühselig herab fiel, brannten weiße, helle Flammen aus den beiden Kerzen.

„Was macht Jessie ?“
Das war ihre große Tochter, die vor einem halben Jahr volljährig geworden war. Ungefähr mit 15 kleidete sie sich nur noch schwarz, grelle Schminke, Lidschatten bis unter die Wimpern, Springerstiefel, sie rauchte, traf sich in der Gothic-Szene, hatte schnell einen Freund, war ständig unterwegs und sagte nie, wo sie war. Aufsässig wie ihre Schwester, passte sich zu Hause nicht an, machte, was sie wollte. Der Lärmpegel ihres Geschreis fügte sich nahtlos in die Streitereien der Eltern ein. Konserativ und an bürgerliches Aussehen gewöhnt, eskalierte der Streit mit dem Vater permanent. Bis sie auszog zu ihrem Freund. Daraufhin schaltete die Mutter das Jugendamt ein. Einweisung in ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche, Rückkehr in die Familie, Rausschmiss durch den Vater, eigene Wohnung.

„Wovon lebt Jessie ?“
„Hat wohl Anspruch auf Hartz IV.“
„Hast Du Kontakt zu ihr ?“
„Nur dann, wenn sie Geld braucht. Das ist häufig der Fall. Eigentlich zynisch. Auf diese Art sehen wir uns öfter. Ich muss nur aufpassen, dass mein Mann nichts davon merkt. Er hat mir verboten, ihr Geld zu geben.“
„Schule ?“
„Seit der Oberstufe geht sie nicht mehr ins Gymnasium. Sie hat aber die mittlere Reife, so dass sie auch auf Ausbildungsplatzsuche gehen könnte.“

Was dachte sie ? Dass sie gerne ihre Tochter losgelassen hätte ? – aber nicht auf diese Art und Weise. Dass sie vor einem Scherbenhaufen stand ? Dass die Hoffnung zuletzt stirbt ? Sie starrte zu der Eingangstür des Restaurants, wo Gäste das Lokal verließen und wo die Jacken an der Kleidergarderobe lichter wurden. Sie war gefasst. Wenn es ernst wurde, presste sie die Falten über ihrem Kinn zusammen.

„Was sie treibt, ist ein Stochern im Nebel. Welche Freunde sie hat. Wo sie sich den ganzen Tag herum treibt. Längst habe ich keinen Einfluss mehr. Als ich sie vor drei Wochen gesehen habe, war sie dünn wie ein Strich. Als sie fünfzehn war, hatte sie schon einmal sehr wenig gegessen. Das hatte sich aber gebessert. Nun muss sie selbst mit ihrem Essverhalten klar kommen. Was willst Du machen ?“

Sie hatte aufgegessen, schob ihren Teller beiseite, wischte sich mit der Serviette den Mund ab. Für einen Moment versteinerten sich ihre Gesichtszüge, ihre Lippen bissen sich fest, doch dann wanderte ein Lächeln hinüber. Das langstielige Glas mit der fast schwarzen Farbe des Rotweins zeichnete im Kerzenschein scharfe Linien. Sie schüttete einen großen Schluck hinunter. Danach wusste sie nicht mehr, wie ihr zumute war: ob sie lachen oder weinen sollte, ob sie mit Demut ihr Schicksal ertragen sollte oder ob sie den Aufstand proben sollte. Sie lebte im Hier und Jetzt. Sie genoss den schönen Abend. Ein Stück Inseldasein mitten in der Zerstörung. Plötzlich kam sie sich so stabil vor, dass sie selbst einem Erdbeben hätte stand halten können.

„Letzte Woche rief Jessie mich an, dass ich sie um 8 Uhr auf ihrem Handy wachklingeln sollte. Um 10 Uhr sollte sie sich beim Tierarzt wegen einer Praktikumsstelle vorstellen. Aussehen, Kleidung, habe ich ihr noch gesagt, wie sie sich anziehen solle.“
„Hat geklappt ?“
„Weiß ich nicht. Ich hatte nur ihre Mobilbox dran, als ich sie auf dem Handy angerufen hatte.“

Ihr war klar, dass der Weg zu Jessie weit und schwierig war. Immerhin war dies ein weiterer Griff, an sie heran zu kommen. Mit einem Mal war sie da, diese Hoffnung, dass die Arbeitswelt Jessie eingeholt haben könnte. Dass sie sich dieser Arbeitswelt nicht verweigern würde. Und dass sich ein Stück Horizont oder Perspektive öffnen würde. Einstweilen hatte sie zufrieden festgestellt, dass sie in diesem Moment gebraucht wurde.

5 Kommentare:

  1. Die vollkommen geglückte Beschreibung einer Frau, die um ihre soziale Identität und Anerkennung ringt.
    Toll!

    Gruß
    Beate

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  2. Hallo Dieter
    Eine alltägliche Familiengeschichte, leider....wer weiss wieviel Familien so leben.

    Hab einen schönen Tag
    Liebe Grüße
    Angelika

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  3. Hallo Dieter,

    leider wahr, aber so etwas gibt es oft.

    Lg

    Barbara

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  4. Sehr schön und anschaulich wiedergegeben, als ob man ein stiller Mithörer wäre.

    LG Arti

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  5. So eine Geschichte macht nachdenklich. Ein Silberstreifen am Horizont ist aber doch, dass Jessie sich bei ihrer Mutter gemeldet hat. Vielleicht kommen sie sich ganz langsam wieder näher... sie wird älter und reifer...
    LG Marita

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