Die Ohren waren noch nicht ganz bedeckt, Haarbüschel meines Ponys trübten noch nicht den Blick durch meine Augen. Bei meinem Gang zum Friseur hatte ich hatte diesmal so zivilisiert ausgesehen, dass ich mich auf der Straße sehen lassen konnte.
„Was macht die Älteste ? ….
… was geht’s dem Jungen in der Ausbildung …
… was macht die Kleine in der Schule ? … „
Der Gang zum Friseur ist so eine Art von Blitzlicht, was gegenwärtig ist. Ich reflektiere frei und halte mich nicht zurück, wenn es irgendwo hakt und klemmt. Ich rede viel offener als sonst wann. Dabei spüre ich Diskretion und Zuhören und Einfühlen in die Situation des anderen. Ebenso stimmt diese Gleichzeitigkeit von Distanz und Nähe: während die Schere klappert, wird das Denken in geordnete Bahnen gelenkt. Tiefenbohrungen dringen in die Gefühlswelt ein, aber nur so weit, dass keine Grenzen überschritten werden. Die Theorie, dass Friseure exzellente Psychologen sind, kann ich nur bestätigen.
Ein Blick in den Spiegel offenbarte die wohl geordnete Struktur, die meine Haare wieder zurück gewann. Büschel ergrauter Haare waren auf den Boden gepurzelt. Die Schere schnitt Maß und Proportion zurecht. Mit meinem eigenen Äußeren begann ich mich wieder anzufreunden. Ich lehnte mich in meinem weich gepolsterten Stuhl nach hinten.
Auch die Friseuse begann, aus ihrem Nähkästchen zu plaudern. Sie setzte auf meinen Beitrag zum Thema Freundschaft auf, dass unser Freundeskreis außerhalb der dörflichen Strukturen zu finden ist. Dies war bei ihr nicht so, denn über ihren Mann und die Vereine war die Vernetzung mit dem Dorf stärker.
„Da müssen Sie aufpassen, was Sie sagen. Am nächsten Tag weiß es das ganze Dorf.“
Ich nickte.
Sie fügte hinzu:
„Als wir den Wasserschaden hatten, als die geplatzte Hauptleitung im Ort unseren Keller unter Wasser gesetzt hatte, da haben wir gemerkt, welches unsere Freunde sind. Aus dem Dorf hat sich niemand sehen lassen. Die Freunde von meiner Seite, die nicht im Dorf wohnen, haben mitgeholfen.“
Einige Zeit später, schwenkte das Gespräch zu ihrer Stieftochter über. Sie lebte in einer Patchwork-Familie, und ihr zweiter Ehemann hatte einen Sohn und eine Tochter in die Ehe mit gebracht.
„Sie können nicht ahnen, wie dumm die ist. Noch keine 18, hatte sie einen Termin beim Frauenarzt, weil sie Angst hatte, schwanger zu sein.“
„Es gibt Fälle, da kommt so etwas vor.“
„Sie überlegt nicht, was sie alles über Facebook an ihre Heerscharen von Freunden postet ….
… Was meinen Sie, was an den Tagen danach los war ? Unser Telefon hat nicht mehr stillgestanden. Das ganze Dorf und all ihre Freunde wollten wissen, ob sie nun schwanger ist oder nicht.“
Ich schüttelte den Kopf. Der Föhn pustete sein heftiges Gebläse über meinen Kopf. Meine Haare schmiegten sich in eine hintere Stellung, Bürste und Kamm brachten meinen Haarschnitt in die richtige Position. Die Bewegungen liefen wie im Schlaf ab, das war präzise, akkurat, sorgfältig. Meinen Kaffee hatte ich aus der schwarzen, sechseckigen Tasse längst ausgetrunken. Am frühen Morgen, kurz vor acht, hatte der Kaffee neben dem regen Treiben der Friseusen meine Lebensgeister geweckt.
Ich wechselte meinerseits das Thema: auf die Vorweihnachtszeit.
„Die Zeit kommt schneller, als man denkt. Übernächste Woche habe ich bereits mit meinen Arbeitskollegen unsere Weihnachtsfeier."
Ich zögerte kurz und sah, wie sie die Länge meiner Koteletten begutachtete, um sie danach ein winziges Stückchen weg zu rasieren.
„Wann machen Sie mit ihren Kolleginnen Weihnachtsfeier ?“
Ich sah, wie ihr Blick augenblicklich auf den Boden fiel und auf dem bläulich-schwarz-gestreiften Linoleum hängen blieb. Die Inhaberin des Friseursalons, die einer Kundin gerade die Haare färbte, ließ ihren Blick ziellos zwischen den Haarwaschbecken herum irren. Ihre Blicke trafen sich nicht, beide zögerten, Worte wanderten über die Lippen, aber wurden nicht ausgesprochen.
Offensichtlich hatte ich mit meiner Frage ein heißes Eisen erwischt. Lange Diskussionen musste es gegeben haben.
„Nächstes Jahr. Machen wir bestimmt. Kümmere ich mich drum.“ beendete die Inhaberin den Stillstand und das Schweigen.
Eine Weihnachtsfeier im Januar des nächsten Jahres ? Oder noch später ? So sinnierte ich vor mich hin. Nein, in meiner eigenen Firma hatte es so etwas nie gegeben. So lange ich bei unserer Firma war – und das waren ungefähr satte 30 Jahre – hatte es im Dezember irgendeine Form des geselligen Beisammenseins gegeben, was man unter dem Begriff „Weihnachtsfeier“ zusammenfassen kann. Rein und raus ging es mit der Fragestellung, wer die Feier bezahlt. Meistens die Firma – in schlechten Jahren hat uns dies nicht davon abgehalten, das Essen und Trinken aus dem eigenen Portemonnaie zu bezahlen. Und ich kann mich nicht daran erinnern, dass es Jahre gegeben hat, in denen unser Chef durch Abwesenheit geglänzt hat (selbst Krankheit oder familiäre Ereignisse sind mir nicht bekannt). Es war ein beklemmendes Gefühl, mitten in eine Art von Wespennest hinein gestochen zu haben.
Als dieser Moment abgeklungen war, setzte die Friseuse ihre feinfühlige Art fort und massierte meine Kopfhaut. Das war entspannend, wie Wellness, obschon ich Wellness in eigenen Wellness-Oasen niemals kennen gelernt hatte.
„Auf Wiedersehen … schönen Tag … grüßen Sie ihre Familie … „ Als ich mich verabschiedete, war mit diesen Förmlichkeiten mein Weltbild wieder zurecht gerückt worden.